Aus – Scham
Holprig, der Einstieg. Die eine ist zu spät, die andere hat schon Bier intus. „Entschuldige, es tut mir so leid, das passiert mir sonst ...
Strike a pose: Voguing ist ein Spiel mit exaltierten Model- und Laufstegposen, ein Tanz, mit dem sich Outcasts Raum zurückeroberten (Foto: Hanna Fasching)
„Americano? Cappuccino? Oder lieber eine Melange?“, erkundigt sich der Kellner. „And for you?“, wendet er sich an Karin Cheng. Alltagsrassismus: 10/10. Nur wenige Minuten zuvor hatte die in Salzburg geborene Tochter chinesischer Migranten gesagt, sie wolle eigentlich nicht über ihre Diskriminierungserfahrungen sprechen. Das werde ihr oft als sensationalisierend ausgelegt. „Auf Englisch angesprochen zu werden, erinnert mich immer wieder daran, anders zu sein. Meine Herkunft ist keine Maske, die ich ablegen kann.“ Schon stecken wir mitten im Thema, das Karin Cheng ständig begleitet.
Ausgrenzung, der Wunsch, dazuzugehören, das Erfüllen von Rollenbildern, Rassismus und Diskriminierung – Erfahrungen, die die professionelle Tänzerin Karin Cheng seit der Kindheit prägen. Und die sie als Teenager in ihren ersten Hip-Hop-Tanzkurs führten. Der Groove der Musik zog sie an wie ein Magnet. Aber nicht nur der: Die damals 17-Jährige verstand selbst mit ihrem Schulenglisch, dass sie so manche Erfahrungen von Black America teilte, die in Hip-Hop-Nummern besungen wurden. „Ich habe die Essenz der Musik gespürt, schließlich herrschen auch in Österreich rassistische Strukturen.“ Ihre alljährlichen Sommerferien in China verstärkten das Gefühl der Fremdheit. „Ich lebte in einer Parallelwelt, gehörte weder in der österreichischen noch in der chinesischen Welt so richtig dazu.“
Dieser Artikel ist in der Print-Ausgabe von FALTERs BEST OF VIENNA 2/22 zum Thema „Maskerade“ erschienen, erhältlich auf www.faltershop.at (Foto: Julia Fuchs)
Karin Cheng fand ihre Heimat im Tanz. Vor allem im Voguing. Ein Stil und ein „Zuhause“ für die von der weißen, heteronormativen Mehrheitsgesellschaft ausgestoßenen Underdogs: „Beim Voguen darf ich mich in den Mittelpunkt stellen und Raum einnehmen. Das ist empowernd und das Gegenteil von dem, wie man in Österreich sozialisiert wird. Der Tanz ist Maskerade und völlige Demaskierung zugleich. Man kann dabei Seiten zeigen, die sonst nirgendwo Platz haben.“
Der Tanzstil spielt mit überzeichneten Catwalkposen. Er entstand in den 1970er-Jahren in der Ballroom-Szene in Harlem, New York. Hier matchten sich die Black-Gay- und Trans-Communities in Voguing-Tanzbattles. Die Tänzer*innen, häufig von ihren Geburtsfamilien verstoßen und prekär lebend, formten neue Wahlfamilien, die „Houses“. Dort lebten sie gemeinsam, unterstützten einander und tanzten. Madonna bediente sich bereits 1990 für ihren Hit „Vogue“ bei der Community, doch richtig massentauglich wurde Voguing erst durch die Serien „Pose“ und „Legendary“. Seither üben sich auch junge weiße Cis-Frauen in schicken Tanzstudios in subversiven Posen – und werden dafür wegen kultureller Aneignung kritisiert.
Die Bewegungssprache der Gesilencten ist laut, ehrlich und demaskierend, sagt Cheng (Foto: Rey Joichl)
Auch Karin Cheng stellt sich immer wieder die Frage: „Soll ich das?“ Denn sie voguet nicht nur, sondern unterrichtet den Tanzstil auch. So leitete sie letzten Sommer beim ImPulsTanz-Festival gemeinsam mit Anna Gaberscik einen Workshop. Außerdem ist sie Hausmutter des Voguing-House „Kiki house of dive“. „Ich habe auf die Frage keine endgültige Antwort“, sagt die 32-jährige Tanzkünstlerin. „Ich kann nur wiedergeben, was jene sagen, die Voguing leben: Es ist für jede Person, aber nicht für jeden Lebensstil.“
Wer ihre Kurse besucht, bloß weil sie oder er die Moves cool findet, würde bald wieder gehen, sagt Cheng. Sie fordert im Unterricht Tiefgang und persönliche Partizipation, das wirke wie ein Filter. „Aber ich bin die letzte Person, die jemanden ausschließen will. Schließlich bin ich ja auch nur Gast in dieser Kulturform.“ Die Debatte ums Voguing schwanke zwischen den binären Polen gut/schlecht, kulturelle Wertschätzung/kulturelle Aneignung oder Ausbeutung – typisch für den eurozentristischen Scheuklappenblick. „Erweitert man die Diskussion um den Begriff der kulturellen Teilnahme, macht alles gleich viel mehr Sinn. Das ist ja schließlich auch, worum es beim Tanz geht: um Teilnahme.“
(Foto: Privat)
Cheng reist seit Jahren immer wieder „in das Mekka der Kultur, die mich so fasziniert“, also nach New York, um mit denen, die Voguing leben, auf Partys und Sessions zu tanzen und das, was sie so liebt, in Aktion und im Alltag zu sehen. Dabei fallen ihr auch Tanztourist*innen auf, die alles aufsaugen, mitnehmen und daraus Profit machen. „Für die Menschen in den Communities ist Voguing kulturelle Praxis, Notwendigkeit und Spaß am Ballroom. Die wenigsten hätten sich je gedacht, dass ihr Tanzstil in Tanzschulen auf der ganzen Welt unterrichtet werden würde.“
Ihre eigene rund zehnköpfige Tanz-Familie von „Kiki house of dive“ führt Cheng in der sozialen und künstlerischen Tradition der New Yorker Houses: als Safer Space, in dem man aufeinander schaut, füreinander da ist und miteinander im Ballroom battlet. „Das Tanzen ist schließlich, was die Leute zusammenbringt und zusammenhält.“
(Foto: Hanna Fasching)
Aus-der-Reihe-Tänzerin
Die in Wien lebende Salzburgerin Karin Cheng, 32, ist professionelle Tänzerin und hat im Voguing nicht nur ihr eigenes Zuhause gefunden, sie ist auch Mutter des Kiki house of dive