Wo die Kunst kotzt
„Moritz, noch einen Ingwerschnaps, bitte!“ Der Kellner schaut zum Tisch an der Tür, wo Lydia Haider sitzt, und signalisiert, dass er ...
In utero: Melzer mischt traditionelle Motive mit feministischen Symbolen. Ihre Werke sind Sichtbarmachung einer missachteten Kunstform und politische Ansage in einem (Foto: Anja Melzer)
Dürfen Feminist:innen sticken? Die Antwort gibt ein Blick auf Anja Melzers Wohnzimmerwand: mehr als ein Dutzend gerahmte Stickbilder. Simone de Beauvoir, Ruth Bader Ginsburg, Malala Yousafzai; ein Uterus umrankt von Eierstöcken aus Blumen; „My favourite season is the fall of patriarchy“, umspielt von Herbstlaub; „Sushirolls not Gender Rolls“ samt Maki, Sushi und Würzbeiwerk; „Can’t believe I’m still protesting this shit“ in zarter Blümchengirlande. Alles aus Melzers Händen.
Die 33-Jährige praktiziert Feminismus mit Kreuzstich. Abends, LED-Stirnlampe am Kopf, wird in ihrer Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung zum Podcast gestochen, während Tochter und Hund nebenan schlafen. Tagsüber in Video-Calls oder in der Redaktionskonferenz. Manchmal stickt die alleinerziehende Journalistin so manisch, dass sich Blasen bilden oder sie ihre Fingerkuppen beim Tippen nicht mehr spürt. „Sticken hat etwas Meditatives, Beruhigendes“, sagt Melzer, gebürtige Bayerin, die in gefühltem Überschalltempo spricht.
Dieser Artikel ist in der Print-Ausgabe von FALTERs BEST OF VIENNA 1/23 zum Thema „Jetzt!“ erschienen, erhältlich auf www.faltershop.at (Foto: Șerban Florentin Roman)
Handarbeit war Teil ihrer Kindheit. „Nichts rein Weibliches. Mein Opa konnte mit der Nähmaschine super umgehen.“ Auslöser ihrer wiederentdeckten Begeisterung war ein feministisches Stickbild auf Instagram. „Kurz vor Corona, also Ende 2019“, sagt sie und versenkt die Nadel in einen aufgespannten Zellstoff. „Ich habe mir sofort so ein komisches Starterpaket mit fünf Garnen gekauft.“Ihr Erstling: „Swag on“ auf üppiger Blumenunterlage, eine Art Money-Boy-Gedächtnisstickerei. „Ich wollte gleich was Eigenes machen.“
Ungefähr drei Jahre später wurde es noch eigener: Anja Melzer gründete im November die 1. Wiener Stickerïnnen Gilde. Seither treffen sich die Stickerïnnen jeden zweiten Donnerstagabend. Bis vor Kurzem im Roten Stern am Mexikoplatz. Seit der zugesperrt hat, sucht die Gilde nach einer neuen Homebase. Bei wechselnder Besetzung schätzt Melzer den Kern auf sieben Personen. „Wir sind gemischt, offen für alle Geschlechter. Eine Architektin ist dabei, eine Künstlerin, jemand aus dem Theater und aus der Sozialarbeit.“ Die Jüngste in der Runde: ihre Tochter. „Ist zwar per se nicht für Kinder gedacht, aber als Alleinerzieherin die Lösung des Betreuungsproblems.“ Die Zehnjährige habe große Augen und Ohren, wenn während des Stickens in der Gilde über die gynäkologische Erkrankung Endometriose, Frauen- und Altersarmut gesprochen wird. „Gut so, das entwickelt Awareness.“
Awareness ist eine Triebfeder für Melzers 1. Wiener Stickerïnnen Gilde. Kein Nähkränzchen. „Wir haben uns gefragt, was wir überhaupt machen wollen. Natürlich hat die Gilde einen klaren aktivistischen Auftrag, den wir auch in der Stadt sichtbar machen wollen.“ Stickerei sei ein machtvolles Werkzeug des Protests: „Ich kann einen feministischen Slogan oder etwas Empowerndes auf ein Transparent schreiben oder auf ein Flugblatt. Aber das wird alles schnell entsorgt. Ist die Message gestickt, wird sie als wertvoller empfunden: Man sieht die Arbeit und die Zeit, die investiert wurden, und kann davon ausgehen, dass jeder Buchstabe, jedes Wort und jedes Symbol, für das sich jemand so lange hingesetzt und in den Finger gestochen hat, ernst gemeint ist.“
Anti l’art pour l’art: Jeden zweiten Donnerstag im Monat trifft sich die 1. Wiener Stickerïnnen Gilde (wo, erfährt man auf ihrem Instagram-Account), um gemeinsam zu sticken, sich auszutauschen und politische Aktionen auszuhecken. Jede:r ist willkommen (Foto: Anja Melzer)
Wie im Wiener Stuwerviertel greifen Feminist:innen weltweit jetzt wieder zu Nadel und Garn. Sie bestimmen die Stickerei als Kunstform neu und nutzen sie als subversives Medium für politische Ansagen. Boomer abwärts galten Handarbeiten jahrzehntelang als der Inbegriff von Traditionalismus und Konservatismus. „Handarbeiten wurden lange als Hobby für Hausmütterchen angesehen“, erklärt Anja Melzer, die neben Publizistik und Kriminologie auch Kunstgeschichte studiert hat. „Die Werke waren nicht männlich und deshalb nicht hochkarätig genug, um als Kunstform verstanden zu werden.“
Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt ein dialektisches Bild: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts etablierten sich Handarbeiten vor allem in der neuen Bürger:innenschicht als sinnstiftende Beschäftigung für Frauen. Stick-, Strick- oder Nähzeug galten fortan als Insignien des weiblichen Anstands. Zugleich verschafften sie Bürgerinnen auch Freiheit. Den Suffragetten dienten sie als schützende Tarnung (Nähkränzchen!) in ihrem Kampf für Frauenrechte, Arbeiterinnen ermöglichten sie finanzielle Unabhängigkeit.
Jetzt steigen Handarbeiten zur Kunst und zum Emanzipationssymbol auf. Zumindest bei jenen, die mit ihren Händen werken, weil sie wollen, und nicht, weil sie müssen: Sie setzen sich nach Feierabend und am Wochenende hinter die Nähmaschine oder nehmen ihr Stick-, Strick- oder Häkelzeug auf, um eine lange missachtete Kunst zu feiern und um dem Patriarchat ihre Messages vor den Latz zu knallen. Denn wie Anja Melzer sagt: „Was stickt, das pickt.“
Stichlerin
(Foto: Anja Melzer)
Vor drei Jahren hat die alleinerziehende Journalistin Anja Melzer das Sticken für sich wiederentdeckt. Mit der von ihr gegründeten 1. Wiener Stickerïnnen Gilde macht die 33-Jährige die Handarbeit nun zum politischen Aktivismus