Wo die Kunst kotzt
„Moritz, noch einen Ingwerschnaps, bitte!“ Der Kellner schaut zum Tisch an der Tür, wo Lydia Haider sitzt, und signalisiert, dass er ...
Eigentlich hatte Rebecca Raschun davon geträumt, im österreichischen Frühstücksfernsehen Games zu präsentieren. Als der Sender das Format stanzte, machte sie als JustBecci auf einem Twitch-Kanal kurzerhand „Beccis Morningshow“ (Foto: Florian Wieser)
„Wer bist du, und was willst du?“, fragt ihr Blick, der um einen Wimpernschlag länger als üblich auf dem Gegenüber haftet. „Kennst du mich?“ Rebecca Raschun wird mehr gekannt, als sie kennt. Zumindest ihr Online-Alter-Ego JustBecci. Unter diesem Namen betreibt sie seit gut zehn Jahren auf der Live-Streamingplattform Twitch einen fast 40.000 Follower schweren Kanal: „Just a girl playing games“ lautet ihr Claim. Ihre professionelle Fassade sitzt wie das Haar im windigen München dank Drei-Wetter-Taft.
Am Tisch, Becci gegenüber, verpufft die kalkulierte Doppeldeutigkeit schneller, als man „irl“ sagen kann. Das mag an der Beherztheit liegen, mit der sie vor ihrem Work-out Eiernockerl bestellt. Aber auch an den Geschichten der 30-Jährigen.
Dieser Artikel ist in der Print-Ausgabe von FALTERs BEST OF VIENNA 1/23 zum Thema „Jetzt!“ erschienen, erhältlich auf www.faltershop.at (Foto: Șerban Florentin Roman)
Es sei weird, wenn sie bei Fan-Treffen Followern gegenübersteht, die so vieles über sie wissen, und sie umgekehrt gar nichts. Sie erzählt davon, dass ihre Fans jahrealte Aussagen von JustBecci zitieren können, an die sie selbst nicht mehr den Funken einer Erinnerung hat. Und davon, wie es sich anfühle, diejenigen auf der anderen Seite des Displays im analogen Leben kennenzulernen: „Da steht dann ein alter Dude vor dir und stellt sich als Hasimaus22 heraus.“ Sie lacht – natürlich und nahbar wie eine Frühstücks-TV-Moderatorin. „Parasoziale Interaktionen“ seien das, erklärt die Berufsstreamerin. Ein Begriff für die einseitige Beziehung, die Massenmediennutzer:innen mit ihren Idolen zu haben glauben. Sie versuche sich im realen Leben von ihren Followern abzuschirmen, doch diese sind nicht nur ihr Kapital, sondern auch Teil ihres Lebens. „Sie sind mit mir gemeinsam gealtert. Ein Junge folgt mir schon, seit er ein Teenager war. Jetzt geht er auf die Uni. Ärgstens, oder?!“
Zehn Jahre sind eine lange Zeit: ein Drittel von Rebecca Raschuns Leben und in Social-Media-Zeitrechnung eine schiere Ewigkeit. Ihr Veteranentum ist nicht das Einzige, womit Raschun aus der Reihe tanzt: Zwar spielen in Österreich fast genauso viele Frauen wie Männer Computer- und Videospiele, insgesamt rund 5,3 Millionen Menschen. Doch nur etwa 25 Prozent der Beschäftigten in der Games-Industrie im deutschsprachigen Raum sind Frauen. Sie ist eine von wenigen, die sich auf der Männerspielwiese Twitch etablieren konnten. Mehrmals die Woche streamte sie stundenlang: Let’s Plays, also das kommentierte Live-Zocken von Computerspielen, aber auch Fitness, Kochen und Live-Chats. Es lief. Bis sie im Juli 2021 merkte, dass Sand im Getriebe war. JustBecci brauchte eine Pause.
Begonnen hat alles vor 25 Jahren mit „Oscar, der Ballonfahrer“. Das spielte die Fünfjährige auf dem PC ihres Vaters in Floridsdorf. Später folgten heutige Klassiker: „Age of Empire“ und „Sims“, dann der Umstieg auf die PlayStation. Ein zweites Hobby? „Pfadfinder.“ Die Eltern hätten ihre Begeisterung für Games nicht „so cool“ gefunden. Vor allem ihr Vater fand, die Spielerei sei Zeitverschwendung. „Weil er selbst nachts am Computer zockte.“ Sie aber wollte Spiel, Spaß und neue Leute. All das fand sie auf dem Live-Streaming-Videoportal, das damals noch Justin.tv hieß. „Ich war schon auf Twitch, bevor es Twitch gab.“ Ihre ersten Streams: „Diablo 3“, live aus ihrem Schlafzimmer. Stumm. Denn 2011 war die Streamingwelt noch still. Ein Jahr später startete sie ihren Kanal „Beccisplayground“, maturierte und zog nach Berlin. „Ich dachte, ich wäre in einer Großstadt aufgewachsen, aber Berlin war schon eine ganz andere Nummer als Wien.“ Dort studierte sie Medien- und Eventmanagement. Auf ihrem Kanal zog sie ihr eigenes Ding durch. Denn Frauenvorbilder auf Twitch? Wüste.
Vollzeitstreamen kann einsam machen: Während andere ausgehen, bespielen die virtuellen Alleinunterhalter:innen die Twitch-Primetime. Irgendwann kenne man kaum noch „Real-life-Menschen“, sondern nur noch andere aus der Bubble, sagt Rebecca Raschun. Ihr Partner ist ebenfalls erfolgreicher Influencer (Foto: Rebecca Raschun)
„Auf Twitch kann man sich nur durchsetzen, wenn man sich benimmt wie ein Typ. Oder ein junges, hübsches Mädchen Anfang zwanzig ist.“ Da auf der Plattform vor allem Männer zugange sind, werde alles sexualisiert. „Ich konnte das beinahe mit wissenschaftlicher Präzision messen: Hatte ich ein T-Shirt mit Ausschnitt an, stieg die Anzahl der Klicks. Stand ich während des Streams auf und mein Hintern war zu sehen: Klicks.“ Als Frau müsse man „mindestens dreimal besser sein“ als männliche Streamer, um ernst genommen zu werden. Ein falscher Witz, ein falsch ausgesprochener Begriff, und die Follower präsentieren die Rechnung in Echtzeit. Becci absolvierte täglich „Beccis Morningshow“, Ego-Shooter-Streams, moderierte für A1 und Red Bull E-Sport-Events, produzierte Hunderte Videos für ihren YouTube-Kanal. Bis der Druck zu groß wurde.
Sie sei kreativ ausgelaugt gewesen, sagt sie und schiebt den halbvollen Teller Eiernockerl von sich. „Das Bedürfnis, sich zur Schau zu stellen, genügt nicht, um erfolgreich zu sein. Ich wollte Mehrwert und Entertainment bieten. Das bedeutet dann nicht nur, jede Woche viele Stunden live zu streamen, sondern auch noch stundenlang Material zu sichten und aufzubereiten. Megaarbeit. Ein Leben wollte ich auch noch haben.“
Wer beim Streamen erfolgreich ist, lebt antizyklisch. „Man hat frei, während alle Freund:innen in der Arbeit sitzen. Abends, wenn die dann etwas unternehmen möchten, streamen wir: Die Twitch-Primetime ist dieselbe wie im TV.“ Irgendwann kenne man kaum noch „Real-life-Menschen“, sondern nur noch andere Streamer:innen und Influencer:innen. So zog Rebecca Raschun die Bremse und schickte JustBecci in eine sechsmonatige Pause. Jetzt ist sie zurück. Als Vollzeitstreamerin.
Alleinunterhalterin
(Foto: Rebecca Raschun)
Auf der Streaming-Plattform Twitch sieht man Leuten live beim Computerspielen und diversen anderen Aktivitäten zu. Rebecca Raschun, 30, ist als JustBecci eine von wenigen erfolgreichen Computerspiel-Influencerinnen in einer virtuellen Männerwelt. Sexismus und toxische Männlichkeit sind hier nichts Ungewöhnliches. Erwachsene Typen mit dem Nickname Hasimaus22 auch nicht. Raschun hat gelernt, damit umzugehen