Proletin mit Klasse
„Grüßt mich der Nachbar nicht zurück, weiß ich, ich bin in Wien.“ Parnia Kosmos grinst. Was den meisten Wiener:innen ...
Foto: Apollonia T. Bitzan
„Moritz, noch einen Ingwerschnaps, bitte!“ Der Kellner schaut zum Tisch an der Tür, wo Lydia Haider sitzt, und signalisiert, dass er verstanden hat. Schmauswaberl an der Wienzeile, kurz nach zwanzig Uhr, Valentinstag, viel los. Haider sitzt an ihrem Stammplatz, schreibt und säuft. Ihr Menü aus Ingwerschnaps und Weißem Spritzer schenkt sie sich an der Theke selber ein, wenn Herr Moritz zu beschäftigt ist. Den Getränkelieferanten hat die gebürtige Steyrerin vorhin per Handschlag begrüßt. Sie setzt das Stamperl an, es schmeckt.
Die Schriftstellerin ist Hausautorin am Wiener Volkstheater und an der Volksbühne in Berlin, Mutter zweier Kinder und Frontfrau der Musikkapelle „gebenedeit“. 2020 hat sie bei den „Tagen der deutschsprachigen Literatur“ in Klagenfurt den Publikumspreis bekommen. „Betrunken schreiben habe ich jahrelang trainiert. Vollfett die letzten Jahre, damit sich die Sprache befreit.“ Richtig gute Sachen seien entstanden, wenn sie nach Nächten ohne Schlaf so richtig „am Semmerl“ gewesen sei.
Dieser Artikel ist in der Print-Ausgabe von FALTERs BEST OF VIENNA 1/23 zum Thema „Jetzt!“ erschienen, erhältlich auf www.faltershop.at. Foto: Șerban Florentin Roman (Foto: Șerban Florentin Roman)
Auch nach 19 Jahren in Wien spricht die 37-Jährige breites Oberösterreichisch. Wenn es sein muss, so derb, dass selbst die Hartgesottenen an der Jukebox hinten im Lokal rote Ohren bekommen. Nein, stimmt nicht, rhetorisch stehen sie Haider in nichts nach. Wenn es in der Spelunke eskaliert, braucht sie keine Angst zu haben. „Früher war ich Staatsmeisterin im Tischtennis, das geht nie wieder weg – die Reaktion“, sagt sie fröhlich lachend. „So schnell wie ich mich ducken kann – speziell, wenn alle fett sind.“
Nachts im Schmauswaberl kann es passieren, dass sie mit einem „HighEnd“-Schauspieler im Keller des Lokals abstrakte Bilder malt, „neben einem Sandler, der sich anspeibt“. Oder mit dem Sandler am Laptop sitzt und mit ihm Texte schreibt, während der „High End“-Schauspieler daneben kotzt. „Voll schön, man weiß hier nie, wer oben und unten ist.“
Als Kind wollte Lydia Haider Lehrerin werden. Geschichten hat sie von klein auf geschrieben, neben dem Studium sei das ein bisschen verlorengegangen, sie wollte in die Wissenschaft. „Mit dem Doktorat habe ich die ersten Romane geschrieben. An der Unibibliothek habe ich gesehen, dass die voi geilen Fachwissenschaftsbücher noch nicht einmal wer aufgeschlagen hat. Aber meine Scheißromane waren ständig weg und zerfleddert. Da dachte ich mir, warum Zeit auf Bücher verschwenden, die keiner liest. Das ist, als würde man herumgehen und keiner sieht dich. Was geschrieben wird, gehört in die Welt, damit die Welt was zurückhaut.“ So wurde sie Schriftstellerin.
Die Menschheit erkennen und nicht an ihr verzweifeln (Foto: Apollonia T. Bitzan)
Sie ist jetzt so erfolgreich, dass ihr die Arbeit fast ein bisschen zu viel wird. Zu viel zu tun, aber keine Zeit, sich über Erfolge zu freuen. „Einmal habe ich so viel geschrieben, dass ich dachte, jetzt dreht es mir das Hirn ein – ein Wort noch, und ich bin in Steinhof. Es war schiach, das Gefühl, da kommst nie wieder zurück. Ich wär’ schon für so was prädestiniert. Eine Grenze überschreiten, weil eh alles so lustig ist – und dann oho.“ Einen ganzen Sommer lang habe sie sich gezwungen, kein Wort zu schreiben, stattdessen „alle Folgen vom „Bullen von Tölz“ angeschaut. „Ich bin nur im Bett gelegen, um wieder runterzukommen und normal zu werden.“
Ihr aktuelles Buch hat sie am Tisch neben der Tür im Schmauswaberl geschrieben. Zweieinhalb Jahre habe sie darauf gewartet, diesen Roman schreiben zu können. „Das war wie das Puzzle einer Landkarte, das ich erst zusammensetzen musste. Daran, dass ich das schaffen würde, habe ich keinen Moment gezweifelt, das wusste ich. Ich musste nur auf den Moment warten, in dem sich der Schalter umlegt. Als das dann passiert ist, war es wie Weihnachten und Geburtstag aus zehn Jahren zusammen.“
Apropos Geschenk. Ein Mann kommt an den Tisch und fragt um Geld für die Jukebox. Er verschwindet, wünscht sich „Barbie Girl“. Haider kippt noch einen Schnaps. Interview fertig. Jetzt muss sie schreiben.
Rabiatschreiberin
(Foto: Apollonia T. Bitzan)
Die in Wien lebende Schriftstellerin, Hausautorin des Volkstheaters, Exzessgetriebene und Hohe Priesterin der literarisch-liturgischen Band gebenedeit arbeitet am liebsten in ihrem Stammtschocherl, dem Schmauswaberl. Wir haben sie im Abstürzer:innen-Wohnzimmer auf ein paar Stamperl besucht und einiges über Inspiration durch soziale Durchmischung und psychohygienische Schreibpausen erfahren