Wo die Bohnen wohnen
120 Millionen Menschen sind weltweit im Kaffeeanbau, in der Verarbeitung und im Handel tätig. Nachhaltiger Kaffeeanbau und faire Lebensbedingungen der…
Foto: Thomas Schneider
Manchmal nehmen die Gesetze der Physik eine Auszeit. Gerade hatte der freundliche Alte mir noch mit aufforderndem Nicken zwei Holzstücke in die Hand gedrückt. Nun steht er starr, wie in Harz gegossen da und blickt mich völlig verblüfft an. Dabei habe ich seine Anweisungen exakt befolgt, erst eine Frage an die Tempelgottheit Guanyin gestellt und dann die beiden halbmondförmigen Hölzer mit sanftem Schwung auf den Boden geworfen. Wäre ein Holzstück mit der flachen und eines mit der gewölbten Seite aufgekommen, wäre die Antwort positiv ausgefallen. Zwei gewölbte Seiten hätten ein klares Nein bedeutet, und bei zwei flachen Seiten hätte ich die Frage noch einmal präziser formulieren und ein zweites Mal werfen müssen. Meine Orakelhölzer aber halten sich nicht an die Regeln. Sie fallen weder auf die gewölbten noch auf die flachen Seiten, sondern balancieren eine ganze Weile auf ihren schmalen Spitzen, bis sie schließlich klackernd unter einen Opfertisch kullern. Der freundliche Alte macht dazu ein von allen guten Geistern verlassenes Gesicht, und auch die umstehenden Gläubigen schauen meinem unbeabsichtigten Kunststück gebannt zu, mit einer Mischung aus Schauder und Neugier. Zweifellos halten sie es für das Werk Guanyins, der mächtigen Hauptgottheit des Longshan-Tempels. Typisch Taiwan! Als einziges Land Asiens hat es die gleichgeschlechtliche Ehe erlaubt, ist Weltmarktführer in der Produktion von Hightech-Geräten, seine Hauptstadt Taipeh zählt zu den modernsten Metropolen in Fernost, aber eine zirkusreife Zufallsnummer genügt und alle Fortschrittlichkeit und Rationalität kapituliert vor Aber-, Götter- und Geisterglaube. Vermutlich hält jedoch genau diese Gegensätzlichkeit alles in dieser Stadt in Balance – die Verspieltheit der Tempel und die Funktionalität der Geschäftstürme, die vollklimatisierten Nobel-Restaurants und die stickig-schwülen Salons, in denen schwitzende Masseure die Rücken ihrer Kunden mit Metzgerbeilen rhythmisch beklopfen. Während im Botanischen Garten eine Seniorengruppe Lebensenergie durch Atemübungen einfängt, spielt eine Gruppe von Androiden im Roboter-Pavillon des Expo Parks erschreckend menschenähnlich Violine oder Basketball, und in Taipehs porentief reiner Metro geht es selbst zur Rushhour stiller zu als in unseren Bibliotheken. An allen Ecken und Enden bestätigt Taipeh einem die Andersartigkeit Asiens, selbst die Begrüßung fällt hier ungewohnt aus. Statt „Hallo“ oder „Schön, dich zu sehen“ fragt man in Taipeh „Hast du schon gegessen?“ und macht deutlich, wo hier die Prioritäten liegen. Taiwans Hauptstadt hat den Ruf, das kulinarische Mekka Asiens zu sein, und wenn das alte Sprichwort stimmt, dass das Essen der Himmel des Lebens sei, dann bin ich auf dem Raohe-Nachtmarkt auf Wolke sieben gelandet. Tagsüber eine unspektakuläre Gasse, verwandelt sie sich bei Einbruch der Dunkelheit in eine grell erleuchtete Open-air-Küche. Halb Taipeh macht sich dann ausgehfertig, mobile Stände werden herangekarrt und Suppenkessel aufgesetzt. In jedem Winkel wird gebraten, gebacken und geröstet. Muscheln in Chilisauce, Austernomelettes oder sautierte Blätter des Vogelnestfarns. Die Angewohnheit, alles zu vertilgen, was sich bewegt, hat dazu geführt, dass Taiwans Tierwelt in hübsch handliche Portionen zerlegt wird – frittierte Tintenfische am Spieß, Quallensalat im Schälchen oder in Blätter gewickelte Fleischklopse. Ich bewege mich wie in einem Museum die Stände entlang und bin sicher, dass sich an manchen Waren nur Medizinstudenten erfreuen können, wenn sie mit dem Blick des Sezierfachmanns in den braunroten Fleischbergen Pansen, Herz und Entenzungen identifizieren. Gourmets dürften sich in Taiwans höchstgelegenem Restaurant besser aufgehoben fühlen, um dort mit den Kellnern die Überlebensrate von Hummern zu diskutieren. Mit heiler Kruste kommt keines der Tiere im Restaurant DingXian davon, doch nicht alle sterben im Kochtopf. Der Herd steht nämlich in der 86. Etage von Taiwans höchstem Wolkenkratzer, dem Taipeh 101. Rund zehn Prozent der Hummer erleiden beim schnellen Transport nach oben einen Schock und sterben an Höhenkrankheit. Einem Erdbeben sollten die Tiere immerhin nicht zum Opfer fallen können, denn zwischen dem 88. und 92. Stock hängt der größte Schwingungsdämpfer der Welt. Bei Erdstößen und Stürmen wirkt das 660 Tonnen schwere Pendel Gebäudeschwankungen entgegen. Es ist recht häufig im Einsatz, denn unweit des Megaturms verläuft eine tektonische Bruchlinie, an der sich die Eurasische und Philippinische Kontinentalplatte übereinanderschieben und den Boden fast täglich erzittern lassen. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich mich auf der Aussichtsplattform im 89. Stock oder zu Füßen des Turms sicherer fühle. Der ganze Bau ist eine Mutprobe, oben wie unten. Mit dem 508 Meter hohen Monument haben Architekten und Statiker die Grenzen des Machbaren ausgelotet und Taipeh ein Wahrzeichen geschenkt. In seinen unteren Etagen locken hochglanz-polierte Ladenpassagen mit eleganten Cafés und Luxusboutiquen, die auch Yifu Sheng Luolang führen, wie mir eine eifrige Verkäuferin versichert und Yves Saint Laurent damit meint. Jeden Abend leuchtet Taipei 101 in wechselnden Farben, und Neonreklame flimmert über die verspiegelten Fassaden von Taipehs anderen Hochhäusern, als regnete es Sternschnuppen. Ich treibe mit den Nachtschwärmern durch das schicke Xinyi-Viertel, das heißt, ich schlurfe mit, weil Schlurfen die ökonomischste Fortbewegungsart ist, die es einem erlaubt, mit der Masse zu gleiten wie auf einem Förderband. Der Schwarm der Schlurfenden zieht vorbei an gigantisch großen Kaufhäusern, Boheme-Cafés und Designerläden und entlässt mich schließlich vor einer Art Tanz-Karaoke-Maschine, die anstelle von Liedtexten Tanzschritte vorgibt. Wer seine Füße zur richtigen Zeit auf den richtigen Punkt am Boden platziert, erhält Punkte. Auf diese Art hat selbst der untalentierteste Tänzer noch die Chance, Boy-Band-Choreographien zu imitieren. Echte Hochkultur wartet hingegen im Nationalen Palastmuseum, das die weltweit größte Kollektion chinesischer Kunst ausstellt – Gemälde, Jadeschnitzereien, Porzellan, Lack- und Kalligraphiearbeiten. Man kann die rund 700.000 Artefakte wahlweise als Beutestücke des wohl größten Kunstraubs der Geschichte sehen oder für Zeugnisse der größten Rettungsaktion halten. Als Millionen Festlandchinesen 1949 nach dem verlorenen Bürgerkrieg unter der Führung von General Chiang Kai-shek vor Mao Zedongs Kommunisten nach Taiwan flohen, nahmen sie den kompletten Kunstschatz mit, den Chinas Kaiser über Jahrtausende gehortet hatten. Wären die Kunstwerke nicht ins taiwanesische Exil gebracht worden, hätten Maos Rote Garden sie während der Kulturrevolution zerstört. Welch Schmach für China, dass sein nationales Erbe inzwischen zu Taipehs größter Touristenattraktion geworden ist und die Ausstellung im gleichen Rang steht wie das New Yorker MoMa und der Louvre. Erschöpft von der Fülle des Museums? Dann hilft jetzt eine wohltuende Fußmassage, eine Schale taiwanesischen Tees oder eine Auszeit im Botanischen Garten. Die kleinen Setzlinge, die die japanischen Gründer des Gartens im Jahr 1921 pflanzten, wuchsen zu gewaltigen Bäumen empor und füllen mit rund 1.500 anderen Pflanzen- und Baumarten diese grüne Oase mitten in Taipeh. „Die Narren hasten, die Klugen warten, die Weisen gehen in den Garten“, lautet ein Sprichwort, und die Neugierigen gehen vom Botanischen Garten wieder zurück zum Longshan-Tempel, wo sich die halbmondförmigen Wahrsagungswerkzeuge beim zweiten Versuch an die Regeln halten. Ich habe dieselbe Frage wie beim ersten Mal gestellt: Werde ich nach Taipeh zurückkehren? Ein Holzstück landete auf der flachen und eines auf der gewölbten Seite. Gewusst hatte ich die Antwort eigentlich schon vorher.
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