Aude

Auf Zeitreise durch Südfrankreich

KARIN WASNER
REISE, COMPLETE MAGAZIN 1/15

Foto: Karin Wasner

„Attention, s’il vous plaît, attention!“ Eine zierliche Blondine mit ausladendem Sonnenhut wedelt aufgebracht mit den Armen. Das Hausboot, auf dem sie steht, steuert – scheinbar gegen ihren Willen – stur auf eine Brücke zu. Vielleicht war sie von dem feschen Franzosen abgelenkt, der tagaus, tagein Laien wie ihr und mir zeigt, wie man auf dem Canal du Midi sein schwimmendes Ferienheim sicher ans Meer navigiert. Der 240 km lange „Kanal des Südens“ verbindet Toulouse mit dem Mittelmeer, geplant wurde er von Pierre-Paul Riquet. Der beschäftigte 1667 zur Realisierung seiner Vision 12.000 Frauen und Männer, die nur mit Schaufeln und Ochsenkarren mehrere Millionen Kubikmeter Erde bewegten und in nur 14 Jahren Bauzeit die für Handelszwecke wichtige Wasserstraße fertigstellten. Erst in den 1970er Jahren wurde der Kanal für den Tourismus entdeckt und so schippern hier heute bis zu 300 Hausboote gleichzeitig.

Der 1996 zum Weltkulturerbe erklärte Wasserweg ist gesäumt von sanft im Wind wiegenden Platanen, die nicht nur wichtig für dessen Uferbefestigung sind, sie spenden auch den tapferen Freizeitkapitänen kühlenden Schatten. Das erledigt ansonsten nur ein Sonnenschirm auf dem Oberdeck, sofern er nicht – wie eben der zitronengelbe Schirm der Sonnenhutträgerin – Opfer einer zu niedrigen Brücke wird und jetzt allein seinen Weg ins Mittelmeer suchen muss. „Le parasol! Le parasol!“ hört man sie noch immer jammern.

Davon abgesehen ist es ruhig auf dem Kanal, lautloses Gleiten, Vögel auf Mückenjagd über den Köpfen, nur 6 km/h Höchstgeschwindigkeit entschleunigen automatisch. „Das hier ist kein Rennen“, philosophiert Anthony, jener fesche Franzose, der eben noch Räder, Grill und Wassertanks auf unser Boot gepackt hat. „Wenn du den Hafen verlässt, spielt Zeit keine Rolle mehr, dann gibt es nur mehr dich und die Natur. Und alles läuft so schnell oder langsam, wie es eben läuft.“ Mit einem Zwinkern, das man hinter seiner verspiegelten Sonnenbrille nur erahnen kann, löst er das Tau und wirft es lässig zurück aufs Boot.
In diesem Moment beginnt die Entdeckung der Langsamkeit.

Die Zeitreise geht durch das Département Aude, das Land der Katharer, der „guten Christen“ oder „Ketzer“ im Mittelalter – je nachdem, wen man fragte. Sie verachteten die Korruptheit der Kirche, sagten sich vom Papst los und entsprachen dabei dem heutigen Zeitgeist: Sie aßen beinahe vegan, Frauen und Männer waren gleichberechtigt, und sie verabscheuten Gewalt. Ihre Geschichte endet mit der Vernichtung durch eigens gegen sie geführte Kreuzzüge, doch ihr Mythos hält bis heute an. Wie Adlerhorste kleben ihre Burgen an den Felsen der umliegenden Hügel. So wie die vier Ruinen der Châteaux de Lastours, steinerne Hinterlassenschaften einer fernen Zeit.

Ganz plötzlich ist sie da. Die Burg aller Burgen: Carcassonne. Hinter einer unscheinbaren Kanalbiegung wartet sie und raubt einem den Atem. Ich warte auf Kevin Costner mit Pfeil, Pferd, Bogen und Bruder Tuck, aber nur ein alter Mann mit Baguette unterm Arm schlurft am Ufer entlang und würdigt Europas größte und besterhaltenste Festungsanlage keines Blickes. 1991 war sie „Nottingham Castle“ im Film „Robin Hood, König der Diebe“ und lässt jetzt meine Playmobil-Ritterburg ziemlich alt aussehen.

Katia Signoles führt Interessierte durch die mittelalterlichen Mauern und weiß zu jedem Stein eine Geschichte. „Ich bin umgeben von Burgen aufgewachsen, daher vielleicht meine besondere Liebe zur Geschichte. Oder ich war in einem früheren Leben ein Burgfräulein.“ Fast entschuldigt sie sich mit einem schelmischen Lächeln für ihre Begeisterung für lange Vergangenes.

Rings um die Burg erstrecken sich Weingärten, soweit man blicken kann, und noch weiter bis an die Küste sind die knorrigen Stöcke allgegenwärtig. Weiter geht’s mit dem Fahrrad, wir strampeln durch ein grünes Rebenmeer gespickt mit Rosenstöcken, Olivenbäumen und immer wieder alten Mauern, Abteien, Schlössern – in dieser Landschaft sieht selbst ein zerbröselnder Schuppen zauberhaft aus.

Die Winzer hier im Anbaugebiet Corbieres füllen einen der besten Weine Südfrankreichs ab. Jean-Pierre, ein Mann mit grauem Bart und roten Backen, ist einer von ihnen. Mit seiner Frau Annie und den beiden Kindern bewirtschaftet er schon in zehnter Generation das Weingut Serres Mazard in den Hügeln von Talairan. „Wir machen vieles noch in Handarbeit“, erklärt Jean-Pierre „Das braucht viel Zeit.“ Sofort fällt ihm seine Frau Annie ins Wort: „Es ist eine schöne, naturverbundene Arbeit. Und sie besteht aus viel Warten und Geduld haben.“ Für ihre wortreiche Schwärmerei über die „passion“ der ganzen Familie für die mannshohen Fässer, vor denen wir stehen, reicht mein Französisch kaum aus. Erst als wir den nach ihr benannten „Cuvée Annie“ verkosten, der 18 Monate im Eichenholz gereift ist, weiß ich, was sie meint.

Unterwegs zur Küste gibt es noch viel Geschichtliches zu entdecken, die eindrucksvollen Abteien Lagrasse und Font-
froide oder die Stadt Narbonne, einst die erste römische Kolonie außerhalb Italiens. Aber das Meer lockt. Und die Tramontane, starker Fallwind aus den Pyrenäen, macht die Region um Gruissan und den Naturpark Narbonnaise zur ventiliertesten Europas und ermöglicht somit eine Fortbewegung der schnellen und vor allem – nach einigen Radkilometern nicht uninteressant – sitzfleischschonenden Art: das Kitesurfen.

Christophe Hamon, ein braungebrannter Franzose in knallbunten Shorts, organisiert hier am Plage Narbonne seit einigen Jahren internationale Kiteevents. Und er hat eine Surfschule aufgebaut, in der „verrückte Wave- und Speedjunkies aus der ganzen Welt“ die Kombination aus Drachensteigen und Wellenreiten üben. Der Strand ist bis auf die großen, knallbunten Kiteschirme leer, jeder Drachen zerrt am Ende der Leine seinen Bändiger über das Nass. Ein Surfer verliert kurz die Kontrolle über seinen Kite und landet mit erst warnenden Rufen und schließlich entwarnendem Lachen nur wenige Meter neben mir im Sand. Schon wieder ein Schirm, der eigene Wege geht, denke ich. Ob wohl der gelbe Sonnenschirm auch schon das Meer erreicht hat?


12 Wochen FALTER um 2,17 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!