Insel der Seligen

Guadeloupe hat alles, was man von einer Karibikinsel erwartet – und noch viel mehr

KARIN WASNER
REISE, COMPLETE MAGAZIN 4/17

Foto: Karin Wasner

Lautes Schmatzen und Geschrei. Das Geräusch, das der Boden macht, wenn er meinen Schuh freigibt, klingt wie ein erleichtertes Seufzen. Gezeter von oben. Wassertropfen rinnen über mein Gesicht. Vielleicht ist es Schweiß. Im immergrünen Regenwald um Guadeloupes Vulkan La Soufrière sind 100 Prozent relative Luftfeuchtigkeit keine Seltenheit. Hier regnet es bei tropischen Temperaturen bis zu zehn Liter am Tag. Es fühlt sich an, als würde man im Dampfbad bergsteigen.

Wer nach Guadeloupe nur zum Sonnenbaden kommt, ist selbst schuld. Die Karibikinsel, die wegen ihrer Schmetterlingsform von ihren Bewohnern liebevoll „Papillon“ genannt wird, hat weit mehr zu bieten: 40.000 Hektar ursprünglichsten Regenwald, durchzogen von 70 Flüssen mit beeindruckenden Wasserfällen und mittendrin einen stets aktiven Vulkan. Rundherum einige der besten Tauchgebiete der Welt und Traumstrände, die aussehen wie „gephotoshoppt“. Das Unglaubliche: All das liegt in der EU. Als französisches Übersee-Departement sind die insgesamt neun Inseln der Kleinen Antillen ein voll integrierter Teil Frankreichs. Das Baguette ist jederzeit und überall frisch, Französisch ist Landessprache und Infrastruktur sowie Sozialsystem entsprechen jenen Frankreichs.

Das tut der Exotik der Insel für Besucher aus Kontinentaleuropa keinen Abbruch: Hier bin ich Gulliver, allerdings nicht in Liliput. Rund um mich haben Zimmerpflanzen wie die Dieffenbachie gigantische Ausmaße angenommen. Was zuhause auf dem Bücherregal darbt, rankt hier 30 Meter gen Himmel, mit Blättern groß wie Regenschirme. Bedingt durch Feuchtigkeit und vulkanischen Boden, gedeihen die Pflanzen zu unvorstellbaren Ausmaßen. 1993 hat die UNESCO das Gebiet zum Biosphärenreservat erklärt. „Zehn Prozent des gesamten Archipels sind streng geschützte Natur.“ Sebastien Nicolas ist Leiter des Nationalparks, der seit 1989 besteht. „Das Herausragende ist die Vielfalt.“ 300 Baumarten, 270 Farne und 200 Orchideen wuchern hier. „Eine solche Diversität auf diesem kleinen Flecken Erde lässt mich immer noch staunen.“ Baumgroße Farne wie hier wachsen nur in wenigen Regionen der Erde. Wie grüne Fächer bewegen sich ihre feingliedrigen Kronen über uns. Viele Pflanzen sind endemisch, sie wachsen nur auf Guadeloupe. „Wenn es hier verschwindet, verschwindet es für immer.“ Wir wandern vorbei an Brettwurzelbäumen, deren ausladende Wurzelgebilde den riesenhaften Bäumen Halt geben. Sebastien sieht zwischen ihnen aus wie ein Zwerg. Gummibäume, Mangroven und Mahagoni formen das Dach des Regenwaldes, das kein Weitwinkelobjektiv der Welt einzufangen imstande ist.

Üppig, bunt und fröhlich. Das ist Guadeloupe auf den ersten Blick. Die Menschen, die Natur, das Essen. Doch wer genauer hinsieht, erkennt: Die Insel hat eine düstere Vergangenheit. In Point a Pitre schauen sie mahnend von den Wänden. Leere Augen aus ausgemergelten Gesichtern. Streetart-Künstler gedenken auf ihre Art des dunklen Kapitels karibischer Geschichte: Die Wirtschaft basierte auf Sklavenarbeit. In Guadeloupe vergisst man das nicht. Im Juli 2015 eröffnete das Mémorial ACTe, ein 4.350 m2 großes Museum, das an die Geschichte der Sklaverei erinnert. Zwischen 1524 und 1848 wurden an die 300.000 Männer und Frauen, hauptsächlich aus Afrika, auf die Insel verschleppt. Noch bis vor
150 Jahren schufteten Sklaven auf den arbeitsintensiven Zuckerrohrplantagen. Fréderic Abidos, der Direktor, führt mit ernstem Blick durch die Räume. Er ist stolz auf die moderne Ausstellung, aber die eisernen Ketten und Fußfesseln, die seine Vorfahren gefangen hielten, lassen ihn bis heute erschauern. „Wo wir stehen, war einst die größte Zuckerrohrfabrik der Insel. Einer der größten Sklavenbetriebe.“ Der futuristische Museumsbau, entworfen von einem lokalen Architektenteam, ist ein Kunstwerk für sich. „Die schwarze Fassade steht für die Opfer.“ Die filigrane Netzstruktur, die sich um diesen dunklen Kern spinnt, soll die Wurzeln des wilden Feigenbaums symbolisieren. „Die Pflanze hat ungeheure Kraft. In Petit-Canal sprengt eine die Mauern des ehemaligen Sklavengefängnisses.“

Dieses Jahr erst wurde das Mémorial ACTe mit dem Museumspreis des Europarates ausgezeichnet. Der 85 Millionen teure Bau in Hafennähe ist nicht unumstritten. Viele hätten das Geld besser in soziale Projekte oder in den Kampf gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit investiert gesehen. Direktor Abidos ist anderer Meinung: „Unsere Geschichte ist der Schlüssel. Erst die Fehler der Vergangenheit zu kennen, macht es möglich, eine bessere Zukunft zu gestalten.“

An die Zukunft „seiner“ Insel glaubt auch Bruno Gargar. „Schau doch, wie gut es uns geht!“ Der Kreole empfängt mich mit einem breiten Lachen und sächsischem Dialekt. Als junger Mann hat er als Musiker und Fabriksarbeiter in Deutschland gearbeitet, seit dreißig Jahren zeigt er Reisenden die schönsten Plätze seiner Heimat. „Wir sind in Frankreich. Und gleichzeitig in der Karibik! Alles lockerer, alles entspannter!“ Seine Urgroßmutter kam als Sklavin aus Afrika. Er selbst hat außerdem
europäische und karibische Wurzeln, seine Frau indianische, indische und französische. „Rassismus kennen wir hier nicht. Hautfarbe, Herkunft: uns hier völlig egal!“ In Guadeloupe scheint der Kulturen-Mix bestens zu funktionieren. Und das, obwohl in der Inselgeschichte die Ankunft von neuen Gruppen stets in Grausamkeiten endete. Die Ureinwohner, Tainos oder Arawak genannt, wurden einst von den Kariben unterdrückt. Dann kamen Spanier, Franzosen, Engländer und Holländer mit Krankheit und Versklavung. Nach Abschaffung der Sklaverei holten die Kolonialherren 50.000 Inder, um die fehlenden Arbeiter auf den Plantagen zu ersetzen. Nur die vielen Aussteiger aus Frankreich wanderten im letzten Jahrhundert friedlich in das tropische Paradies aus. „Vielfalt ist hier etwas Gutes!“, sagt Bruno heute.

In seinem Jeep fahren wir von Grand Terre, dem flachen und trockeneren Inselflügel, in den Süden des bergigen und bewaldeten Basse Terre. Zuerst dominieren weite Zuckerrohrfelder die Landschaft. Es ist Erntezeit. Im Schritttempo schleichen wir hinter beladenen Traktoren her. Zuckerrohr ist bis heute eines der wirtschaftlich bedeutendsten Produkte der Insel. Auf Basse Terre verändert sich der Blick. Anstelle von Zuckerrohr wachsen hier Bananen. In blauen Plastiksäcken reifen die Früchte für den Export. „Bananen aus der EU!“ Bruno lacht. „So ist das hier: Bananen, Zuckerrohr und Tourismus!“

Hotelketten sucht man dennoch vergebens. Stattdessen gibt es zauberhafte Unterkünfte, liebevoll von ihren Besitzern gestaltete Bungalows, Chalets oder Baumhäuser. Dort erntet man das Frühstück direkt vor der Terrasse, badet unter freiem Himmel oder füllt morgens das Zuckerwasser für die Kolibris nach. Partyleben gibt es auf der Insel kaum. An Hochprozentigem mangelt es trotzdem nie. Rum ist neben Zucker und Bananen eines der Hauptexportprodukte der Insel. Rum, Zucker und Limetten – mit dieser Kombination beginnt hier ein gelungener Abend. Ti Punch oder Planteur, wie die süßen Sünden aus Frucht und Rum heißen, sind gelebte Tradition und Teil der Mahlzeiten. Sie werden gern mit einem verschmitzten „Chacun prépare sa propre mort“ serviert: Jeder darf seinen Tod selbst zubereiten. Viel Humor und ein wenig Rum sind vielleicht auch der Grund, warum es auf der Insel stets lustig und entspannt zugeht.

In Trois-Rivières im Süden von Basse Terre setzen wir mit dem Schiff auf den kleinen Archipel Les Saintes über. Die Heiligeninseln haben ihren Namen von keinem Geringeren als Christoph Kolumbus, der sie 1493 entdeckte – zu Allerheiligen. Hier treffen Atlantik und Karibisches Meer aufeinander. Am Strand von Pompierre baumelt man entspannt unter Palmen in der Hängematte und fühlt sich wie in einem Reisekatalog. So lange, bis man von einem netten Einheimischen auf die ungewohnte Gefahr von oben aufmerksam gemacht wird: herunterfallende Kokosnüsse.

Vorher sollte man unbedingt noch den schweißtreibenden Aufstieg zum berühmten Fort Napoleon auf sich nehmen. Bruno verspricht sonnenbadende Leguane und einen fantastischen 360-Grad-Blick von der beeindruckenden Befestigungsanlage. Sie wurde später zu einem Strafgefangenenlager umfunktioniert und beherbergt heute eine Ausstellung zur Inselgeschichte und Fischerei. Bruno hält Wort: Die Kombination aus anstrengendem Fußweg und dem Ausblick auf die laut ihm „schönste Bucht der Welt“ verschlägt einem tatsächlich die Sprache.

Auch Camélia Bausivoir-Garcia und ihr Mann Claude wollen Bewusstsein für die Schönheit und Traditionen der Insel schaffen. Die ehemalige Englischlehrerin und der Geschichtsprofessor betreiben das Musée de Costumes Traditionells in Gosier nahe der Hauptstadt. In ihrer beeindruckenden Sammlung aus traditionellen Gegenständen und Kostümen tollen Vorschulkinder um eine Reisegruppe französischer Rentner. „Wir wollen die Geschichte dieser wunderschönen Insel bewahren und den Jüngeren näherbringen, wie die Menschen vor ihnen gelebt haben.“ Besuchern zeigen sie, welche Vielfalt an Menschen, Pflanzen, Traditionen und Bräuchen sich hier in den vergangenen Jahrhunderten entfalten konnte. Camélia spricht laut, um das Musikvideo zu übertönen, das gerade läuft. Eine Kreolin in einem farbenfrohen Kleid mit den typischen Madras-Karos tanzt zu Gwo-ka-Rhythmen, der traditionellen Musik aus Percussion und Gesang.

Guadeloupe ist wie diese schöne Tänzerin. Bunt, fröhlich und ausgelassen. Und trotz einer bewegten Geschichte haben die Menschen hier das Lachen nicht verlernt.


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