Kappadokien

Heiße Luft und kühle Höhlen

KARIN WASNER
REISE, COMPLETE MAGAZIN 4/14

Foto: Karin Wasner

Ein lautes Fauchen tönt durch das orangerote Zwielicht der Höhle. Der helle Fleck, den eben noch die Sonnenstrahlen auf den Stein zeichneten, verschwindet langsam. Etwas Großes, Dunkles schiebt sich vor das erste Licht des Tages. Stille.
Wieder ein langes Zischen. Danach Geschrei.

„Hello, good morning, girls!“ In einem bunten Ballon schweben japanische Pensionisten an unserer Terrasse vorbei. Es scheint, als könne man ihre Hände fassen, so nah manövriert der übermütige Fahrer seinen Ballon unter dem begeisterten bis entsetzten Gekreische seiner Passagiere an uns vorbei. Schlaftrunken, in Decken gewickelt, verfolgen wir das Schauspiel, winken verlegen gen Himmel und sehen uns schon mit japanischen Kommentaren auf Flickr. Mit einem erneuten Fauchen gewinnt der Ballon an Höhe, Japaner samt Kameras entschweben und überlassen uns wieder der Stille. Am Himmel hinter dem erst 1963 eingestürzten, von Höhlenwohnungen durchzogenen Felsen von Çavuşin aber tanzen schon wieder bunte Punkte, der Wind bestimmt jeden Tag aufs Neue, wohin es geht. Allmorgendlich starten in Kappadokien an die hundert Heißluftballons zu Schwebeausflügen über die geheimnisvollen Vulkanberge Zentralanatoliens. Noch in dunkler Nacht werden die Ballons mit heißer Luft gefüllt, Menschen aus aller Welt trinken fröstelnd Tee und frühstücken viel zu süße „Turkish Delights“, bevor es in die Lüfte geht. Zehn unterschiedliche Sprachen in einem Korb sind keine Seltenheit, aber die ersten Sonnenstrahlen, die lange Schatten in die bizarren Steinlandschaften zeichnen, zaubern ein verbindendes Lächeln auf die müden Gesichter. Liebestal, Mönchstal, ihre Namen geben Auskunft über die Formen, die sich entdecken lassen. Pilze, ein Kamel, eine Schnecke entstanden über die Jahre durch Erosion des vulkanischen Tuffsteins. Fairy Chimneys – Feenkamine – werden die Felsskulpturen genannt, die die Täler rund um Göreme zur einzigartigen, bizarren Märchenkulisse machen.

Wir frühstücken auf Elifs Höhlenterrasse, alle paar Minuten wiederholt sich das Schauspiel, ein neuer Ballon taucht hinter den Felsen auf. Winken. Fotos. Elif, eine junge, hübsche Türkin mit dunklen Locken, lebt erst seit einigen Jahren in Kappadokien und hat sich hier einen Traum erfüllt. Sie bewahrt ein Höhlenhaus vor dem Verfall, restauriert in liebevoller Handarbeit – denn für Baufahrzeuge und Maschinen ist das Gestein zu weich – Raum für Raum und möchte dabei die Ursprünglichkeit dieser jahrhundertealten Behausung bewahren. Ein Nullenergiehaus mit Solaranlage, Brunnen und Feuerstelle will sie schaffen. Die Dusche soll wie damals mit Regenwasser funktionieren, die einstige Futterkrippe wird zum Bücherregal. „Tausend Handgriffe haben mein Zuhause geschaffen, jetzt bin ich hier und will diesen Zauber bewahren.“ Immer wieder haben neue Bewohner die Behausungen aus Stein ihren Bedürfnissen angepasst. Perser, Griechen, Byzantiner, sie alle haben die Höhlen bewohnt, für sie waren sie Zuflucht vor Kriegen, Klöster, Viehställe, Weinkeller. Aktuell werden die meisten zu luxuriösen Hotels umgestaltet, für Busladungen voll Touristen, die wöchentlich für einige Tage in die Vergangenheit reisen wollen. „Ich möchte hier einen Ort schaffen, an dem Menschen erleben, wie früher schon Wege gefunden wurden, mit der Natur und den Gegebenheiten zu leben, und wie wenig es braucht, um glücklich zu sein.“ Elif stammt aus der Stadt Izmir, hat Tourismusmanagement studiert und für Pharmakonzerne Reisen organisiert. „Kappadokien war damals Liebe auf den ersten Blick“, schwärmt sie und lässt ihren Blick über die weißen Felstürmchen, die kleinen Häuser und die Weingärten unter sich schweifen. „All die Bequemlichkeiten eines modernen Lebens machen dich ängstlich, diese Annehmlichkeiten zu verlieren. Ich will es lieber unbequem“, lacht sie und deutet auf ihre Toilette im Freien.

Elifs Freund Emre, der sich dazugesellt und eine Tüte frisch geernteter Tomaten beisteuert, arbeitet ebenfalls im Tourismus, wie fast alle, die hier leben. Sie sind Ballonfahrer, dienen als Guides, führen Hotels. Emre ist eben 32 Jahre alt geworden und betreibt seit Kurzem seine eigene Reiseagentur. Er organisiert Ausflüge zum Beispiel zu den berühmten unterirdischen Städten, bis zu 12 Stockwerke tief in den Stein gegrabene Siedlungen mit raffinierten Belüftungssystemen, die Schutz- und Zufluchtsorte für Christen vor den einfallenden Seldschuken waren. Bis zu 40 soll es in der Gegend geben, einige noch unentdeckt, es gibt nur Mutmaßungen über ihre Existenz – die gut getarnten Eingänge erfüllen offenbar auch heute noch ihre Aufgabe.

Emres ganzer Stolz aber ist Sari Han, eine Karawanserei,
erbaut um 1250, die er gemeinsam mit seinem Vater und öffentlichen Förderungen über fast zehn Jahre restauriert hat und in der seit 1999 die Derwische des Mevlevi-Ordens ihre Sema tanzen. So wird das Ritual genannt, das auf den Mystiker und Dichter Dschelaladdin Rumi zurückgeht und eine spirituelle Zeremonie voller Symbolik ist. Zu den Tönen der Nay, der orientalischen Langflöte, stets gegen den Uhrzeigersinn wirbelnd, mit erhobenen Armen und geschlossenen Augen, drehen sich die Derwische um ihren Leiter. Die Vorstellung ist mehr als eine Touristenattraktion und Fotografieren strengstens verboten, schon beim Eintreten verstummt das Geplapper der Besucher. Als die Derwische die Augen schließen, um sich ganz dem Gebet hinzugeben, und sich in Ekstase drehen, werden auch wir Zuseher von der besonderen Stimmung erfasst und verlassen am Ende das eindrucksvolle Gebäude in andächtigem Schweigen. „In Kappadokien hast du eine Verantwortung gegenüber der Geschichte“, meint Emre, als er mit uns auf das Dach der ehemaligen Herberge für Karawanenreisende klettert. Er deutet auf den 179 Meter hohen Burgfels von Uçhisar, der, wie ein Schweizer Käse mit Wohnhöhlen durchlöchert, über das Hochplateau wacht, und lacht: „Für die Hethiter war der Fels ein militärischer Spähposten, später ein Kloster, und es ist gar nicht so lange her, da war er das Obst- und Gemüselager des Ortes. Und heute Abend klettern wir mit einer Flasche Wein hinauf und sehen uns den Sonnenuntergang an. Und schreiben Geschichte!“


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