Im Schnee zwischen Berg und See
Wo die Weite der Kärntner Nockberge auf die Tiefe des Millstätter Sees trifft, findet man im Winter ein Wunderland voller Möglichkeiten
Foto: Karin Wasner
„Andiamo, subito!“ Der Mann im Anorak zerrt an der Leine eines zotteligen Hundes, der begeistert im schwarzen Geröll gräbt. Ein Jaulen und der Unfolgsame macht einen Satz nach hinten. „Hot, heiß!“, warnt der Bergführer, der unsere kleine Gruppe auf den Ätna begleitet, und erinnert uns, dass bereits einen Meter unter uns 100 Grad herrschen. Der Ätna ist Europas größter aktiver Vulkan. Nach zwei Jahren Stille spuckt und faucht er seit Ende vergangenen Jahres wieder regelmäßig. 2001 zerstörte ein heftiger Ausbruch eine Seilbahn samt Hotels, Souvenirläden und Skiverleih. „Mit 450 Meter pro Sekunde schoss damals Lava aus unserem Berg“, berichtet der Guide und untermalt seine Schilderung mit dramatischen Gesten, als wäre er persönlich dabei gewesen. „Ihrem“ Berg verdanken die Sizilianer fruchtbare Böden. Die Vegetation rundum ist die artenreichste im ganzen Mittelmeerraum. Als Weltnatur-erbe findet man an seinen Hängen drei Vegetationszonen, vom blühenden Mandelhain bis zur Wüste. Das entspricht einem Klimaunterschied von 4.000 Kilometern.
Wir stapfen weiter, unter unseren Wanderschuhen kullern unentwegt Bimssteinbrösel ins Tal. Bei zwei Schritten nach vorne rutscht man wieder einen zurück. Im Gipfelbereich des Vulkans liegt den Großteil des Jahres über Schnee. Mühsam kämpfen wir uns aus dem dunstigen Nebel über die Wolkendecke nach oben. Atemlos stehe ich plötzlich im Sonnenschein und die Wolkenwatte bauscht sich bis zum Horizont.
Darunter liegt Sizilien, die größte Insel im Mittelmeer. Gesäumt von Sandstränden und türkisblauem Meer, ist ihr Wahrzeichen, der Vulkan, an klaren Tagen aus weiter Ferne sichtbar. Schon Goethe wollte ihn besteigen, doch Einheimische rieten ihm davon ab, es war zu gefährlich. „Daß ich Sizilien gesehen habe, ist mir ein unzerstörlicher Schatz auf mein ganzes Leben“, rekapitulierte der große Dichter seine Reise. Besonders begeistert war er vom Teatro Greco in Taormina unweit des Vulkans an der ionischen Küste. Genau dorthin mache ich mich auch auf den Weg – und tatsächlich: Der Ausblick von den Rängen des antiken Theaters ist gewaltig. Ursprünglich zur Aufführung von Schauspielen gedacht, fanden dort später Gladiatoren- und Tierkämpfe statt. Heute stehen anstelle von Löwen und Sklaven Stars wie Sting, Patty Smith oder Eros Ramazotti auf der Bühne aus dem 3. Jahrhundert v. Chr.
Für Handel und Seefahrt hatte Sizilien immer schon eine große Bedeutung. Immer wieder kamen neue Eroberer. Hier kreuzten sich die Handelsstraßen der Römer, Punier und Griechen. Später eroberten die Normannen sie von den Arabern und noch später kämpften hier die Franzosen gegen die Spanier. Und alle hinterließen sie ihre Spuren. 3.000 Jahre Kulturgeschichte auf einem kleinen Fleck auf der europäischen Landkarte. Über die ganze Insel verstreut stehen antike Tempel neben byzantinischer, arabischer und normannischer Baukunst.
Sizilien ist im Winter immer noch ein Geheimtipp. „Keine Ahnung, warum, aber viele Hotels haben jetzt geschlossen“, meint die Linzerin Ursula, unsere Gastgeberin. Seit 28 Jahren lebt sie auf der Insel und teilt ihr liebevoll renoviertes Haus mit Menschen aus der ganzen Welt. „Auch Busreisen gibt es keine“, sagt sie, während wir unter blühenden Bougainvilleen auf der Terrasse sitzen und frühstücken. „Da hat sicher die Mafia ihre Hände im Spiel“, flüstert sie mit einem Augenzwinkern.
Ab November gehört die Insel den Sizilianern. In der Via Cavour in Ortigia, in der sich sonst ein Touristenstrom auf der Suche nach Pasta und Pizza in Richtung der Piazza Duomo schiebt, bleiben die Stühle vor den Tavernen nun bis spätabends leer. Denn die Sizilianer sind nicht – wie ich nach intensivem Sightseeing – schon bei Einbruch der Dunkelheit müde und hungrig. Und dunkel wird es im Winter hier schon gegen fünf Uhr nachmittags. Dann gehen in Syrakus’ historischer Altstadt die Lichter an und sofort strahlen die aus weißem Kalkstein der umliegenden Küstenregion erbauten Kirchen und Palazzi mit den Sternen um die Wette. In der Antike war Syrakus die Hauptstadt des alten Griechenlands. Bis zu eine Million Einwohner soll sie damals größer und mächtiger gemacht haben als das verfeindete Athen. Der Römer Cicero lobte sie sogar als „die schönste aller griechischen Städte“.
Durch die flaniere ich nun 2.000 Jahre später mit einem XXL-Gelato, vorbei an griechischen Tempeln, barocken Kathedralen und knutschenden Teenies bis zu Caroline van Riets kleinem Keramik-atelier. Keramik hat auf Sizilien eine lange Tradition, aber mit Tradition hat die gebürtige Holländerin nichts am Hut. Ihre Werke sind voller Witz und Lebensfreude. „Die Liebe zu dem Sizilianer ging, die Liebe zu Sizilien blieb“, schmunzelt sie. „Ich bin süchtig nach dem sizilianischen Lebensstil, der Sonne, der Leichtigkeit, dem bisschen Chaos.“
Die wahre Keramikhochburg Siziliens liegt allerdings hundert Kilometer landeinwärts. Caltagirone, eine der drei spätbarocken Weltkulturerbestädte des Val di Noto, beherbergt rund 120 Keramikläden. Die meisten haben sich entlang der Freitreppe Santa Maria del Monte, berühmt für ihre Majolikafliesen, angesiedelt. Es waren die Araber, die im 9. Jahrhundert die glasierte Keramik mit ihren üppigen Farben in die Stadt brachten. Und die ist noch immer angesagt: Domenico Dolce, in Palermo aufgewachsen und Teil des Designerduos Dolce & Gabbana, widmet die aktuelle Herbstkollektion der bunten Majolika-Keramik.
Palermo soll meine letzte Station sein. Unterwegs in Richtung Norden, durch das grüne, hügelige Landesinnere, parke ich meinen streichholzschachtelgroßen Fiat auf dem fußballfeldgroßen Parkplatz vor der Villa Romana. Mit ihren Bodenmosaiken ist der luxuriöse Landsitz eines römischen Kaisers eine der bedeutendsten Sehenswürdigkeiten Siziliens. Normalerweise warten hier Dutzende Busse, ich streife allein mit einer italienischen Kleinfamilie auf Wochenendausflug über 3.535 m2 Farbenpracht. Besonders beeindruckend sind die Jagdszenen und der Circus Maximus, die größte Bekanntheit haben aber einige spärlich bekleidete Damen erlangt: Die „Mädchen im Bikini“, junge Sportlerinnen in römischer Gymnastikwäsche, haben es sogar bis in mein Lateinschulbuch geschafft.
Angekommen in Palermo, ist das erste Gebot Furchtlosigkeit. Man begibt sich hinein in den Kreisverkehr und kommt erst wieder heraus, wenn man das ungeschriebene Gesetz „Wer bremst, verliert“ verinnerlicht hat. Eng und verwinkelt sind die Gassen der Altstadt, in denen laut die Vespas knattern und überall die Wäsche trocknet. Noch vor einigen Jahren war diese Gegend abends tabu – nicht nur für Touristen. Die Cosa Nostra regierte die Stadt, kassierte Schutzgeld und spekulierte mit Immobilien. 100.000 Palermitaner ließen sich vertreiben, bis nur noch 15.000 übrig waren und die menschenleere Altstadt verfiel. Jetzt drehen sich wieder die Betonmischer und zwischen abrissreifen Ruinen eröffnen Szenebars und Kunstgalerien. Zu verdanken ist das Leoluca Orlando. In den 80ern und 90ern war er als Bürgermeister eine Schlüsselfigur im Kampf gegen die Mafia. 2004 wehrte sich auch die Zivilgesellschaft und gründete die „Addiopizzo“-Bewegung – „auf Wiedersehen, Schutzgeld“. Dem mutigen Widerstand einiger Lokale, die sich weigerten zu zahlen, schlossen sich viele weitere an. Mittlerweile sind es über 800, erkennbar an bunten Aufklebern in den Fenstern. Viele von ihnen kaufen Produkte bei Libera Terra, einer Initiative, die landwirtschaftliche Produkte auf von der Mafia konfisziertem Land anbaut. Der Kampf gegen die Cosa Nostra scheint fast gewonnen. Jetzt – zwanzig Jahre später – wurde Bürgermeister Orlando mit mehr als 70 Prozent der Stimmen wiedergewählt: „Nur ein Verrückter kann sich entscheiden, noch einmal Bürgermeister von Palermo sein zu wollen“, sagt er in einem Interview. „Aber ich liebe diese Stadt zu sehr.“ Und Palermo liebt seinen „guten Paten“.
An meinem letzten Abend auf der Insel denke ich wieder an Goethe und seine Reise im Frühjahr 1787. Zum Abschied schrieb er damals: „Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele. Hier ist erst der Schlüssel zu allem.“ Wie recht er doch hat.
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