Dokumentation der Krankheit
Pathologie Das Pathologisch-Anatomische Bundesmuseum im Wiener "Narrenturm" auf dem Universitäts-Campus beherbergt die weltgrößte Sammlung von Leichenteilen. Die stummen Zeugnisse des Leidens und Sterbens haben in den letzten Jahren eine neue medizinische Bedeutung erhalten - und stoßen auf wachsendes Publikumsinteresse.
vom 15.12.1999
Nur wenige Meter vom Museumseingang entfernt steht es, das kleine, zerbrechliche Skelett mit dem riesigen Schädel obendrauf, der halbiert und wieder schlecht zusammengefügt wurde. In der Haltung leicht gebeugt, hat es den Kopf nach oben gewendet, wie um dem Blick des Betrachters fragend zu begegnen. Die "kleine Gräfin" wird das Exponat hausintern liebevoll genannt - es ist ein Mädchen, das an einem Wasserkopf (Hydrozephalus) litt, im Alter von fünf Jahren im Wiener Allgemeinen Krankenhaus starb und danach als Skelett den Beständen der Sammlung einverleibt wurde.
Wien ist anders. Nicht zuletzt in seinem unbekümmert-populären Umgang mit dem Tod und allem Pathologischen. Früh in der Moderne haben sich hier Wissenschaft, Kunst und Staat zusammengetan, um die schreckliche Leere der Prosektur zu überwinden, also jenes Orts, an dem die Obduktionen des toten Körpers stattfinden. Eine Schlüsselgestalt dieser Allianz war Joseph II., der Ende des 18. Jahrhunderts mit seinen Reformen Grundsteine für das öffentliche Gesundheitswesen des Landes gelegt hat. Der aufklärerische Monarch war es auch, der 1785 oberitalienische Meister beauftragt hat, für die neue Elite klinisch gebildeter Ärzte anatomisch korrekte Wachsmodelle menschlicher Körper herzustellen.
Körper in Kampfer konserviert Neben dieser einzigartigen Sammlung an Wachspräparaten, die bis heute im Josephinum, dem Museum für die Geschichte der Medizin an der Wiener Währinger Straße, zu besichtigen ist, wuchs aber auch das Interesse am "echten" toten Körper. Und so kam es, dass Johann Peter Frank, seines Zeichens Aufklärer und Begründer einer "medizinischen Polizey", 1796 mit der Aufbewahrung "merkwürdiger" Körperteile begann, die in Kampfer eingelegt für die interessierte Nachwelt konserviert wurden.
Handelte es sich bei diesen so genannten "Feuchtpräparaten" um missgebildete Föten, wurden sie sichtlich mit großer Hingabe in Posen gebracht. Eine gewisse Inszenierung ist allerdings auch vielen Knochen- und Trockenpräparaten nicht abzusprechen, die neben den Moulagen (Wachs-Paraffin-Abgüssen von Körperteilen) den Grundstock der ursprünglichen pathologisch-anatomischen Sammlung der Universität Wien bildeten.
Dass die Grenzen zwischen Medizin und Kunst im 19. Jahrhundert noch eher fließend waren und bedeutende Ärzte oft gleichzeitig große Metaphysiker bzw. Poeten, dafür steht der Name Carl Rokitansky (1804-1878). Der gefeierte Begründer der pathologischen Anatomie in Wien hat auf der einen Seite - gegen die kirchlichen Opponenten und deren Anspruch auf die unversehrte Leiche - die systematische Sektion und die Aufnahme von Leichenteilen in die Sammlung begründet. Auf der anderen Seite gab er sich aber auch keinen Illusionen hin, dass seine Tätigkeit etwas mit "Augenscheinlichkeit" zu tun hätte.
Spurenträger des künftigen Wissens Die histologischen Schnitte, die Präparate und Moulagen waren ihm ebensogut Konstrukte des ärztlichen Wissens wie der Natur - oder was man in seiner Zeit eben unter "Natur" verstand. Ohne begrifflichen Apparat konnten die opulentesten krankhaften Veränderungen des Körpers nicht "gelesen" werden. Und umgekehrt machte erst ein methodisch geordnetes analytisches Vorgehen aus (erkenntnistheoretisch) wertloser Materie Objekte des Wissens.
Wir sind es gewohnt, solche Sammlungsexponate als Relikte aufzufassen, wertvoll schon durch ihre Singularität und die Unwahrscheinlichkeit, ihnen überhaupt begegnen zu dürfen. Für Rokitansky aber lag der "Sinn" der Sammlung nur zum Teil in der Sicherstellung der "Belehrung". Ihr eigentliches Geheimnis lag für ihn darin, dass sich der Fortschritt der Wissenschaft selbst nirgends so deutlich wie an diesen Repräsentationsweisen der Medizin zum Ausdruck brachte.
Entsprechend wurde die Sammlung für den Vater der pathologischen Anatomie zum Gravitationspunkt der medizinischen Erkenntnistheorie. Höchst bemerkenswert war seine Begründung dafür: In Spiritus konservierte Organe, Gewebsschnitte und Skelettteile seien Spurenträger für ein Wissen, das sich seine Artikulationsmöglichkeit erst noch schaffen müsste. Entsprechend sollte "alles dasjenige, was nur ungenügend beschrieben werden kann", konserviert und gesammelt werden. Die auf diese Weise angehäuften Exponate hatten damit auf jenen Zeitpunkt zu warten, an dem sie der medizinische Expertendiskurs wieder zum Sprechen brachte.
Neues Interesse an alten Präparaten Heute, nach einer mehr als wechselvollen Geschichte dieser mit über 50.000 Objekten laut Eigendefinition "weltgrößten pathologischen Sammlung" scheint ein solcher Zeitpunkt gekommen. Denn durch neue Entwicklungen in der Medizin - insbesondere durch neue Verfahren der Genanalyse - haben etliche der Präparate plötzlich eine völlig neue Bedeutung erhalten, wie Beatrix Patzak, die gegenwärtige Direktorin der Sammlung, mit einigem Stolz erzählt.
So seien gerade Forscher aus Philadelphia im "Narrenturm" gewesen, die Proben von ausgewählten, fast 100 Jahre alten Feuchtpräparaten - "in Formaldehyd aufbewahrt sind die wie neu" - mitgenommen haben. Die Kollegen aus den USA, so erklärt die praktische Ärztin weiter, würden über antibiotika-resistente Bakterien arbeiten - wie jene Bakterien, die wahrscheinlich daran beteiligt waren, dass die Grippeepidemie im Jahr 1918/19 zur schlimmsten in der Geschichte wurde: Bestimmte Komplikationen wie Lungenentzündungen waren letztendlich dafür verantwortlich, dass damals in vier Monaten 20 Millionen Menschen starben.
Selbstverständlich finden sich Gewebeteile von damaligen Opfern in der umfassenden Sammlung des Museums, das so plötzlich völlig neue medizinische Bedeutung erhält. Wissenschaftliches Interesse ist zum Beispiel aber auch an Feuchtpräparaten der von Tumoren befallenen Schilddrüsen erwacht. "In der Strahlenmedizin ist man heute um den Nachweis bemüht, dass durch Kernkraftwerke und ihre Strahlung Schilddrüsenkrebs entstehen kann. Die große Frage ist, wie dieser Beweis zu liefern ist", erklärt Patzak die Problemlage - nicht ohne hinzuzufügen, dass die Antwort womöglich in ihrem Museum gefunden werden könnte. "Etliche der Schilddrüsenkrebspräparate stammen nämlich aus einer Zeit, bevor es vom Menschen erzeugte Strahlung gab. Wenn nun aber das Karzinom genetisch gleich sein sollte wie das von Strahlenopfern, dann wäre das ein Indiz dafür, dass die Ursache womöglich doch woanders liegt."
"Diagnosticum und Therapeuticum" Nicht ohne Schadenfreude schildert Patzak, dass das Museum noch in den Achtzigerjahren bedeutende Sammlungsbestände aus Deutschland erhalten habe - wo man meinte, dass man auf die konservierten Präparate gut und gerne verzichten könne, weil sie doch für nichts mehr gut seien. Ein Irrtum, wie sich nur wenige Jahre später herausstellen sollte. "Hic locus est, ubi mors gaudet securrere vitae", jener lateinische Spruch über einem der Torbögen, scheint heute aktueller denn je: "Hier ist der Ort, an dem sich der Tod freut, dem Leben zu helfen."
Das ist die wissenschaftliche Seite der Sammlung, die im übrigen auch die beschränkten Öffnungszeiten des Museums erklärt. Denn die meiste Zeit wird in den engen Räumlichkeiten des Narrenturms der Forschung nachgegangen bzw. die entsprechenden Vorleistungen erbracht: Präparate werden für Forscher hergerichtet; Proben genommen - gemäß der Arbeitsdefinition der Sammlung, die wie folgt lautet: "Dokumentation der Krankheit im Objekt, in Bild und Beschreibung, im Diagnosticum und Therapeuticum (...) sowie der hieraus resultierenden Konservierung, Publikation, Forschung, Lehre, Dokumentation, Begutachter- und Sammlungstätigkeit."
Daneben gibt es aber auch noch die öffentliche Seite der weltweit einzigartigen Bestände, die erst vor 25 Jahren zum für die Allgemeinheit zugänglichen Museum wurden. Die längste Zeit, von 1821 bis 1974, war die Sammlung der Lehrkanzel für pathologische Medizin zugeteilt, ehe sie 1971 nach und nach in den "Narrenturm" im Alten AKH übersiedelte. Drei Jahre später wurde sie dann - auf Betreiben von Hofrat Portele, ihres damaligen, legendären Leiters - zum Bundesmuseum erklärt. Damit scheint aber auch schon wieder das Verantwortungsgefühl des Staates für die Sammlung zu enden, die heute von der Absiedelung aus dem generalsanierungsbedürftigen "Narrenturm" bedroht ist (zu den umstrittenen Zukunftsplänen siehe den Beitrag im aktuellen Falter 50/99).
Provokation dezenten Grauens Zwischenzeitlich erfüllt das in der Schausammlung im Erdgeschoß aufgebotene Provisorium von Syphilitiker-Nasen, Missbildungen und braun-orangen orthopädischen Prothesen einen anderen, nicht unerheblichen Zweck des Museums: die Provokation dezenten Grauens. Und es ist gut möglich, dass die An- bzw. Zumutungen der Objekte, der Zyklopen, Hydrozephalen und der Wachsabdrucke luetischer Gesichter alles andere vergessen machten - den katastrophalen Zustand des Gebäudes oder die für Laien unergründlichen Regeln der Objektgruppenbildung.
Das Interesse der Museumsbesucher ist - wenn man einer einschlägigen Befragung glauben darf - höchst unspezifisch und am ehesten noch mit "Schaulust" zu umschreiben. Doch es ist wohl eine andere Lust als jene, die noch in den Sechzigerjahren die Leute in "Präuschers Panoptikum" im Prater getrieben hat.
Der "Hunger" nach phantasmatischen Körperbildern hat die erotische Dimension abgestreift, die ihm im Zeitalter des klassischen Kapitalismus noch zugekommen war. Die "Angstlust", die mit der verbotenen Auflösung der eigenen Körpergrenzen und der leiblichen Organisation in einer bürgerlichen Kultur des Subjekts verknüpft war, ist längst passe.
Sattdessen ist eingetreten, was Rokitansky so wahrscheinlich nie vermutet hätte: Der Körper ist vollkommen und für jeden transparent geworden. So transparent, dass die Präparate aus zwei Jahrhunderten auch für die Laien ihren Charakter verändert haben. Sie unterrichten jetzt nostalgisch von einer Zeit, die noch reich war an abnormen, entstellten, monströsen Körpern. Dem Publikumsinteresse hat das indes keinen Abbruch getan: Die Besucherzahlen haben in den vergangenen Jahren stetig zugenommen, seit 1993 waren es trotz restriktiver Öffnungszeiten und Platzverhältnisse immerhin 21.000 Personen.
Wie groß das Potenzial des Hauses aber wirklich ist, lässt sich am ehesten im Vergleich mit Gunther von Hagens' "Körperwelten"-Schau erahnen. Die war mit einer halben Million Besuchern in fünf Monaten die erfolgreichste Ausstellung, die Österreich je sah.
Anatomisch-Pathologisches Bundesmuseum im "Narrenturm", 9., Spitalgasse 2. Öffnungszeiten: mittwochs 15-18, donnerstags 8-11, jeden ersten Samstag im Monat 10-13 Uhr, Tel. 406 86 72, E-Mail: pat@via.at, Homepage: www.pathomus.or.at.