Maßstab Körper
Anthropometrie Körpergröße und Sozialstruktur haben sehr viel mehr miteinander zu tun, als man denkt. Wie sich soziale Ungleichheit leibhaftig manifestiert.
Ich brauche keinen Penis, um ein Mann zu sein. Ein Mann zu sein bedeutet mehr, als einen großen Schwanz zu haben", meint er. Und sie sagt: "Eine Frau zu sein ist keine Frage der Geschlechtsorgane." Er ist Transsexueller in Großbritannien und nennt sich als Mann Kenny; sie heißt Elsa und lebt als Transsexuelle in Spanien.1 Machen die beiden mit ihren Aussagen bloß aus der Not der technischen Unzulänglichkeiten bei Geschlechtsumwandlungen eine Tugend? Oder sind das vielmehr nicht doch die Worte von radikalen Vertretern des sozialen Konstruktivismus?
Was auch immer die Antwort sein mag: Transsexuelle stellen die traditionellen Definitionen von Geschlecht und Geschlechtszugehörigkeit auf die Probe. Beschreiben sie sich selbst, dann hört sich das meist so an: "Dein Geist sagt dir, dass du eine Frau bist, aber dein Körper entspricht dem nicht. Du hast also diese Vorstellung, wie dein Körper aussehen sollte. Und dann stehst du vor dem Spiegel - und alles ist falsch." Personen wie die britische Transsexuelle Gwendolyn berichten von einem starken Hass auf den eigenen Körper und einem entsprechend intensiven Wunsch nach einer operativen Geschlechtsumwandlung. Diese beiden Affekte sind charakteristisch für die medizinische Definition und Diagnose von Transsexualität. Im Unterschied dazu geht Transvestismus mit der Bevorzugung bzw. der Fetischisierung von Kleidungsstücken des jeweils anderen Geschlechts einher.
Durch die operative Geschlechtsumwandlung werden für transsexuelle Personen jene Effekte der sozialen Konditionierung rückgängig gemacht, die sie - gegen ihr "natürliches, reales Selbst" - in das "falsche Geschlecht" gezwängt hat. Transsexuelle sind nicht nur im falschen Körper aufgewachsen, sondern haben auch das falsche geschlechtsspezifische Verhalten gelernt - wie sie rückblickend festhalten. Doch wessen Fehler war das? Der Gottes? Oder der Natur? Als einziger Ausweg scheint sich die Umoperation anzubieten - in den Worten von Gabriel, eines spanischen Transsexuellen: "Wenn man den Geist nicht dem Körper anpassen kann, dann muss man eben den Körper dem Geist anpassen."
Offensichtlich ist die Leib-Seele-Dualität der Ausgangspunkt für die chirurgische Behandlung von Transsexuellen. Da Körper nicht beliebig gefügig zu machen sind, benötigt die "Seele" bzw. das "wahre Selbst" hormonelle und operative Eingriffe, um zur "eigentlichen" Identität zu finden. Dazu kommt, dass Transsexuelle die operative Geschlechtsumwandlung oft mit kosmetischen Eingriffen verbinden. So meint zum Beispiel Gwendolyn: "Warum solltest du nicht den Körper bekommen, den du haben willst? Gut, es mag viel Geld kosten und viele Operationen benötigen; aber eine postoperative Transsexuelle ist in jedem Fall gleich wie eine andere Frau." Und Matt, ein US-amerikanischer Transsexueller, stellt klar: "Wenn ich schon 400.000 Dollar ausgebe, dann will ich den schönsten Schwanz der Welt."
In Ländern wie Großbritannien, wo das öffentliche Gesundheitswesen die Kosten für die Geschlechtsumwandlung trägt, sind Transsexuelle bemüht, den medizinischen Kriterien zu entsprechen, um eine Gratisbehandlung zu erhalten. Aus diesem Grund klingen ihre Selbstbeschreibungen auch wie gewissenhafte Zitate aus der schulmedizinischen Literatur. In Spanien dagegen, wo transsexuelle Personen für die operative Geschlechtsumwandlung selbst aufkommen müssen, spielen medizinische Definitionen eine weit weniger bedeutende Rolle. Eine Folge davon ist aber auch, dass transsexuelle Spanierinnen vielfach "nur" über operativ bzw. hormonell hergestellte, sekundäre weibliche Geschlechtsmerkmale wie Brüste verfügen, ihre (männlichen) Geschlechtsorgane aber über Jahre behalten.
Seit den frühen Fünfzigerjahren, als Transsexualität aufgrund der ersten operativen Geschlechtsumwandlungen in den USA erstmals zu einem öffentlichen Thema wurde, hat dieses Phänomen weder an öffentlichem noch wissenschaftlichem Interesse eingebüßt. Und in den Humanwissenschaften zog es folgenreiche begriffliche Konsequenzen nach sich. So geht die Unterscheidung zwischen "Sex" und "Gender" - also zwischen biologischem und sozialem Geschlecht - auf die Beschreibung der operativen Geschlechtsumwandlung bzw. ihrer theoretischen Implikationen im Hinblick auf die Leib-Seele-Problematik zurück.
Später haben Feministinnen dieses Begriffspaar verwendet, um die kulturellen und historischen Variabilitäten des "sozialen Geschlechts" herauszustreichen. Dadurch wurde die zunächst rein psychologische Kategorie "Gender" in eine soziologische verwandelt - und fortan galt das "soziale Geschlecht" als veränderbar, während das biologische Geschlecht (also "Sex") als fixiert begriffen wurde. Damit war der ursprüngliche Bedeutungszusammenhang in sein Gegenteil verwandelt worden, denn beim Transsexualismus wird die psychologische Geschlechtsidentität ("Gender") als unveränderlich beschrieben, während man das biologische Geschlecht ("Sex") für wandelbar hält.
In den vergangenen Jahren wurde Transsexualität - und insbesondere ihr mögliches subversives Potenzial - in den Kulturwissenschaften zu einem Gegenstand heftiger Debatten. Auf der einen Seite haben da Wissenschaftsforscher die Rolle der Ärzte kritisiert, da deren Definition von Transsexualität traditionelle Geschlechterrollen bestätige und so jede Form der Abweichung davon pathologisiere. Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler wiederum schlägt vor, Transsexualität als Metapher dafür zu sehen, wie man über Prozesse der Vergeschlechtlichung neu nachdenken bzw. sie möglicherweise unterlaufen könne.
Dass radikale Kulturtheoretiker das Phänomen der Transsexualität mit Konzepten des "dritten Geschlechts" in nicht europäischen Gesellschaften in Verbindung bringen und als Infragestellung des bipolaren Systems der Geschlechter feiern, stößt bei den Betroffenen selbst allerdings auf wenig Gegenliebe. Mit dem subversiven Potenzial von Transsexualität bzw. mit der Überwindung der traditionellen Geschlechterdichotomien haben sie zumeist wenig am Hut: "Es gibt nur zwei Alternativen in der Gesellschaft. Du bist entweder ein Mann oder eine Frau", meint Robert, ein britischer Transsexueller. Und Gwendolyn und Andrea, zwei britische Transsexuelle, bekennen, dass sie sich "nur in die Gesellschaft einfügen" wollen und "nicht daran denken, sie herauszufordern".
Verstärkend kommt hinzu, dass viele Transsexuelle vor der Geschlechtsumwandlung für Homosexuelle gehalten werden. Das stellt für die meisten im Rückblick ein echtes Problem dar, wie auch der Transsexuelle Gabriel berichtet: "Du findest eine Frau attraktiv und sagst Hallo zu ihr. Aber sie sieht dich als Frau und denkt sich: Lesbe! Als Transsexueller ist es schon nicht mehr so schlimm." So behauptet eine neue vergleichende Studie über Transsexualität in Australien und Schweden, dass rigide Geschlechterrollen bzw. homophobe Haltungen in einer bestimmten Gesellschaft den Zwang verstärken, transsexuell zu werden.
1 Sämliche Gesprächszitate in diesem Artikel gehen auf Tiefeninterviews mit transsexuellen Personen in Spanien, Großbritannien und den USA zurück, deren Namen anonymisiert wurden. Die Zitate wurden von den Gesprächspartnern gegengelesen. Transsexuelle, die vom Mann zur Frau wurden, sind in vorliegendem Text mit der weiblichen Form, transsexuelle Männer (die ursprünglich Frauen waren) mit der männlichen bezeichnet.
Patricia Soley Beltran arbeitet als Kulturwissenschaftlerin an der Universität Edinburgh und schließt gerade eine vergleichende Studie über Transsexuelle in Spanien und Großbritannien ab. E-Mail: 9572751@tiree.sms.ed.ac.uk.