Stalins "jüdische" Ohren/Interview mit Sander Gilman: "Man wählt, was man will"

vom 15.12.1999

Henry R. Luce Distinguished Professor of the Liberal Arts in Human Biology in the Germanic Department. Der Name des Lehrstuhls von Sander Gilman lässt wenig Weiß auf seiner Visitenkarte. Und er deutet den umfassenden Zugang des Professors für Germanistik, Wissenschaftsgeschichte und Psychiatrie an der Universität Chicago an. Der (Ko-)Autor von über 50 Büchern hat sich mit der Geschichte des Wahnsinns, der jüdischen Identität und der Langlebigkeit rassistischer Stereotypen befasst. Dabei ging es auch immer um Fragen der sozialen Konstruktion des Körpers, die ihn auf sein neuestes Forschungsfeld geführt haben: die Kulturgeschichte der Schönheitschirurgie.

Mitte Oktober war Gilman zu einem Vortrag am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien. heureka! sprach mit ihm über den schwankenden Status der Schönheitschirurgie, darüber, warum immer mehr Menschen freiwillig unters Messer wollen, er selbst aber nicht.

heureka!: Was ist für einen Wissenschaftshistoriker so spannend am Thema Schönheitschirurgie?

Sander Gilman: Jede Gesellschaft hat den Körper auf irgendeine Weise verändert. Manche nennen es Religion, andere Schmuck, wieder andere Medizin. Wir leben in einer Zeit, in der all das im Bereich der Schönheitschirurgie verschmilzt. Die Frage ist nun, wie aus der Schönheitschirurgie eine medizinische Spezialdisziplin wird. So kann man unsere moderne, nachaufklärerische Faszination unserer Fähigkeit, den Körper zu verändern, vielleicht besser verstehen. Dabei interessiere ich mich gleichermaßen dafür, warum sich die Medizin der Schönheitschirurgie annimmt, wie dafür, was den Patienten bzw. Kunden veranlasst, sich einer solchen Prozedur zu unterziehen.

Warum wird es gesellschaftlich immer akzeptabler, sich "schön" machen zu lassen?

Die allgemeine Akzeptanz, die die Schönheitschirurgie in den letzten zwanzig Jahren gefunden hat, hängt einfach damit zusammen, dass eine größere Zahl an Menschen sich solchen Prozeduren unterzieht und dass solche Veränderungen Teil einer Kultur der Selbstverbesserung sind. Das reicht vom Fitnesstraining über Diät bis hin zu Antiraucherkampagnen. Solche Bewegungen finden Sie weltweit. In Südkorea genauso wie in Indien, in Hollywood genauso wie in Wien.

Lässt sich die Zunahme der Schönheitsoperationen als eine Tendenz zur stärkeren Individualisierung des Menschen oder zur stärkeren Homogenisierung begreifen?

Es ist beides. Man wählt sein Aussehen. Es ist nicht mehr "Gottes Gabe" (oder "Fluch"). Das ist eine freie Willensentscheidung und Teil der individuellen Autonomie. Aber um eine neue Nase, ein neues Kinn oder einen neuen Bauch zu haben, übergibt man sich dem Chirurgen, der die Sache dann in die Hand nimmt. Man wählt, was man will, und der Chirurg geht dann bis an die Grenzen der medizinischen Möglichkeiten. In zwanzig Jahren wird es ein statement sein, sich keiner Schönheitsoperation zu unterziehen. Sich operieren zu lassen wird normal sein.

Haben Sie selbst schon einmal daran gedacht ...?

Nein, gemäß meinem Selbstverständnis geht es nicht darum "to pass", also gewisse gesellschaftlich vorgegebene Kriterien zu erfüllen und damit für mehr oder weniger gehalten zu werden, als ich eigentlich bin. Es ist kein Narzissmus, Schönheitschirurgie abzulehnen, sondern das hat einen anderen Grund. Um Groucho Marx zu zitieren: "Ich möchte keinem Verein beitreten, der mich als Mitglied akzeptiert."

Interview: O. H.

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