Stalins "jüdische" Ohren

Kulturgeschichte Die Schönheitschirurgie boomt wie nie zuvor weltweit. Dahinter steckt aber mehr als nur ein Jahrmarkt der Eitelkeiten. Es ist ein Schlüssel zum Verständnis der Moderne zwischen der Autonomie des Individuums und kulturellen Zwängen.

Oliver Hochadel
vom 15.12.1999

Je ähnlicher man dem Bild wird, das man von sich selbst erträumt, um so authentischer wird man", sagt die silikongepolsterte Transsexuelle Adrago in Pedro Almodovars Film "Alles über meine Mutter". Diese Selbstfindung verdankt sie der Schönheitschirurgie, die nicht nur in Spanien spritzt und strafft.

In Südkorea gibt es pro Kopf mehr Schönheitschirurgen als in den USA. Die ersten ägyptischen Touristen, die nach dem Friedensschluss nach Israel fuhren, ließen sich im gelobten Land ihre Nasen korrigieren. Deutsche reisen nach Südafrika, um den Kruger-Nationalpark zu sehen und sich en passant den Penis vergrößern zu lassen. Der Operationstourismus ist zum großen Geschäft geworden.

Schönheitschirurgie ist aber nicht nur ein weltumspannendes, sondern auch ein klassenübergreifendes Phänomen. Obwohl die Operationen teuer sind und von den Kassen in der Regel nicht übernommen werden, kommen die Patienten aus allen Schichten. Und das bereits seit den Anfängen der modernen Schönheitschirurgie Ende des vorigen Jahrhunderts.

Wie ist dieser Aufstieg zu erklären? In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden die Anästhesie und die Desinfektion erfunden, sprich: Es schmerzt nicht mehr unerträglich und ist nicht mehr gefährlich, sich unters Messer zu begeben. Das wäre eine funktionalistische Interpretation, wonach der technologische Fortschritt die treibende Kraft ist.

Der US-amerikanische Wissenschaftshistoriker Sander Gilman (siehe Interview S. 20) schlägt nun eine stärker kulturhistorisch ausgerichtete Erklärung vor. Er führt den Boom der Schönheitschirurgie auf die aus der Aufklärung herrührende Vorstellung von individueller Autonomie und persönlichem Glücksanspruch zurück. Wobei Selbstbestimmung und Anpassung hier Hand in Hand gehen.

Zentral in Gilmans Darstellung ist die Idee des passing: Ziel des operativen Eingriffs ist es demnach, in seinem sozialen Umfeld akzeptiert zu werden, dazuzugehören, als etwas anderes, verwandelt "durchzugehen". Das beginnt bereits bei den Syphilitikern des 17. und 18. Jahrhunderts, die durch ihre Krankheit ihre Nase einbüßen und mittels Prothese als "gesund" gelten wollen. Und nicht als verkommen. Denn der Charakter und die Moralität eines Menschen sind dem Gesicht eingeschrieben - so die herrschende Vorstellung der Zeit.

Gleiches gilt auch für die "Abstammung". Die Geschichte der Schönheitschirurgie ist nämlich untrennbar mit den Diskursen über "Rassen" und deren vermeintlich typischen physiognomischen Merkmalen verbunden. Adolf Hitler war überzeugt davon, dass Stalin Jude sei, weil dessen Ohrläppchen angewachsen waren. Im Zentrum dieser Debatten steht aber die Nase, die in vielen Kulturen als Kennzeichen der "Rasse" verstanden wird.

Das Stereotyp der überlangen "jüdischen" Nase war um die Jahrhundertwende so weit verbreitet, dass auch die Juden selbst es verinnerlicht hatten. So verwundert es nicht, dass der Begründer der modernen Rhinoplastik, der operativen Bildung einer künstlichen Nase, der Berliner Arzt Jacques Joseph (1865-1934), ein assimilierter deutscher Jude war. Orientiert an griechischen Schönheitsidealen verpasste er seinen Patienten narbenfreie "nose-jobs" (siehe Fotos).

Die Iren, vor allem die Einwanderer in die USA, galten um 1900 per se als stupsnasig (und hässlich) und trachteten daher nach einer "englischen" Nase. Viele schwarze US-Bürger sehnten sich nach einer "weißen", die Japaner nach 1945 nach einer "kaukasischen" Nase (siehe dazu den Artikel S. 21).

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die Schönheitschirurgie zum Siegeszug um den Globus an. Wieder könnte man neue Technologien als Grund anführen: Die Verfahren der Brustvergrößerung, des Fettabsaugens und des Faceliftings werden entwickelt. Aber wieder argumentiert Gilman mit dem passing: Nun geht es darum jünger, dünner, weiblicher oder männlicher, vor allem aber schöner zu sein.

Dass hier kulturelle Prägungen eine entscheidende Rolle spielen, zeigt etwa ein Blick nach Südamerika. Argentinien hat die höchste Rate an Silikonimplantaten weltweit: Die vollbusige, "europäische" Frau verkörpert das Ideal. Im Nachbarland Brasilien mit seiner großen Varietät an Hautfarben ist es gerade umgekehrt. Große Brüste werden dort mit "schwarz sein" assoziiert, entsprechend hoch ist die Zahl der Brustverkleinerungen. Besonders beliebt sind Operationsgutscheine als "sweet sixteen"-Geburtstagsgeschenke.

Die Schönheitschirurgie hat unsere gesamte Kultur durchdrungen: Gilman weist dies auch für die Literatur und die bildende Kunst nach. Sie kann dabei auch zur politischen Aussage werden, so wenn der südafrikanische Performer Richard Kilpert (beschnitten, weiß) sich eine schwarze Vorhaut annähen lässt und dadurch einen "multiracial cock" kreiert.

Österreich hinkt, was die Anzahl und die Enttabuisierung ästhetischer Eingriffe angeht, im Vergleich etwa zu den USA noch etwas hinterher, holt aber auf. Verlässliche Zahlen lassen sich nicht angeben, da entsprechende Operationen hierzulande nicht meldepflichtig sind. Allenfalls Trends lassen sich beobachten, und die spiegeln die internationale Entwicklung: Die Zahl der Männer, die sich unters Messer begeben, nimmt zu, liegt aber immer noch unter zwanzig Prozent. Fettabsaugen, Nasenkorrekturen sowie Haarimplantate stehen bei ihnen ganz oben auf der Prioritätenliste.

"Bei den Frauen ist nach einem Einbruch zu Beginn der Neunzigerjahre aufgrund der Silikondiskussion die Zahl der Brustvergrößerungen wieder im Steigen begriffen", berichtet Herbert Mandl, Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie. Und auch hier kommen die Patienten aus allen Schichten der Gesellschaft: "Wenn der Leidensdruck entsprechend groß ist, ist man bereit, andere Dinge hintanzustellen", erklärt Mandl. Fettabsaugen im Sanatorium statt Ferien im Süden.

Wobei zum Leidensdruck auch Arbeitslosigkeit zählen kann. "Ein Mann um die 50, der etwas verbraucht ausschaut, glaubt - wohl nicht zu Unrecht -, dass er mit einem geglätteten und attraktiveren Gesicht leichter wieder einen Job findet", sagt Helmut Hoflehner, plastischer Chirurg in der Klinik Lassnitzhöhe in der Steiermark, einem der größten "Schönheitszentren" Österreichs: "Die Leute wissen, was sie wollen, haben aber oft falsche Vorstellungen von dem, was möglich ist. Mit modernen Simulationen kann man ihnen dann am Bildschirm zeigen, wie sie etwa ohne Hakennase aussehen würden."

Hinterher fühlen sich die Operierten zufriedener und glücklicher - wenn die Auswahl gut getroffen wurde", differenziert Mandl. Denn "tiefer liegende" Probleme lassen sich nicht wegoperieren. Der Mann mit der Höckernase und den Kontaktschwierigkeiten hat letztere auch ohne erstere noch.

Etwa 50 plastische Chirurgen gibt es in Österreich, die meist sowohl rekonstruktive wie auch ästhetische Chirurgie praktizieren. Den hohen wissenschaftlichen Level der Schönheitschirurgie möchte die Wiener Chirurgin Maria Deutinger nicht angezweifelt wissen: "Das ist keine Anfängerchirurgie."

Sie betont, dass Erfahrung in der ästhetischen Chirurgie in der plastischen hilft und umgekehrt. Wenn ein Gesicht verletzt ist, muss man nicht nur die Haut zusammennähen, sondern auch Verziehungen korrigieren. Wie aber sieht das Gesicht am besten (schönsten) aus? Die Grenzen zwischen ästhetischer und rekonstruktiver Chirurgie sind demnach fließend.

Auch wenn die Krankenkassen versuchen, klar zu trennen: So sind bei einer Brustverkleinerung 500 Gramm und mehr pro Brust medizinisch indiziert (meist plagen die Frauen Rückenschmerzen), darunter gilt der Eingriff als kosmetisch. Und noch eine Warnung zur Weihnachtszeit: Plastische Chirurgen raten dringend davon ab, dem Partner eine Operation zu schenken.

Sander L. Gilman: Making the body beautiful. A cultural history of aesthetic surgery. Princeton 1999 (Princeton University Press). 396 S., US-$ 18,95

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