Begierde des Patriarchats?

Gen-Diagnose: Die Fruchtwasseruntersuchung soll schwangeren Frauen bei der Entscheidung helfen, ihr Kind zu bekommen oder nicht. Im Zeitalter der Gentechnik bietet die pränatale Diagnostik nicht nur Antworten auf bange Fragen. Sie ist selbst zu einem Problem geworden.

Peter Lachnit
vom 23.02.2000

Die Lehrerin Maria H. war fast 43, als sie schwanger wurde. Zur Freude über das unerwartete Kind gesellte sich bald die Angst. Schließlich waren beide Elternteile über vierzig, und da ist ja die Wahrscheinlichkeit bekanntlich höher, ein genetisch geschädigtes Kind zu bekommen. Ihr Arzt hat Maria H. zuerst mit Ultraschall untersucht; der Kopf des Embryos war normal groß, das Rückgrat in Ordnung. Außerdem hat er ihr noch zur Fruchtwasseruntersuchung geraten.

Bei diesem im Medizinersprech "Amniozentese" genannten Vorgang wird die Bauchdecke der Frau punktiert, Fruchtwasser entnommen und damit eine Zellkultur angelegt. Wenn dann genügend Zellen vorhanden sind, werden die Chromosomen analysiert. Bis zum Ergebnis der Untersuchung vergehen mindestens drei Wochen, und die Wartezeit ist für die Betroffenen nicht einfach. Gefühle der Freude hätten da nicht aufkommen können, erinnert sich Maria H.: "Das Warten war sehr von Angst geprägt." Solange das Untersuchungsergebnis nicht vorgelegen sei, habe sie ihre Schwangerschaft vor der Umwelt geheim gehalten: "Ich wollte mich im Falle eines schlechten Befundes dann nicht mit Mitleidsbekundungen auseinander setzen müssen."

Pränatale, also vorgeburtliche Untersuchungen werden heute nahezu bei allen Schwangeren vorgenommen. Im Ultraschall können bestimmte Auffälligkeiten auf eine kindliche Chromosomenstörung hinweisen; bei der Amniozentese wird nach genetischen Krankheiten "gefahndet", wie das im Jargon heißt, etwa nach der Trisomie 21, einer Störung des 21. Chromosomenpaars, die das Down-Syndrom - volkstümlich auch "Mongolismus" genannt - auslöst. Gefahndet wird auch nach möglichen Fällen von zystischer Fibrose, einer tödlich verlaufenden Verklebung der Atemwege. Die Fruchtwasseruntersuchung birgt indes selbst ein gewisses Risiko: In einem Prozent der Fälle kann durch sie eine Fehlgeburt ausgelöst werden. Daher wird diese Untersuchung erst für Frauen ab 35 empfohlen, weil ab diesem Alter das Risiko, ein Down-Kind zu bekommen, das Risiko einer Fehlgeburt übersteigt.

Das Vorliegen eines medizinisch "negativen" Befundes bedeutete für Maria H. eine große Erleichterung: "Es war für mich sehr angenehm, schon früh in der Schwangerschaft zu hören, dass keinerlei Auffälligkeiten vorliegen." Was vielen werdenden Müttern als Entscheidungshilfe gilt, wird von anderen allerdings auch als Eingriff und Bevormundung empfunden. Vor allem von kritisch-feministischer Seite wird betont, dass die Fortschritte von Medizin und Biotechnik in der Schwangerenvorsorge auch Kehrseiten hätten.

So sieht die deutsche Soziologin Barbara Duden in der pränatalen Vorsorge ein Ritual, "das auf die Zerstörung des historischen Schwangerschaftserlebnisses angelegt ist". Aus Schwangeren seien Patientinnen gemacht worden, die mit Apparaten überwacht und einer - meist männlichen - Gebärmedizin unterworfen würden. Die Einheit von Frauenkörper und Ungeborenem sei aufgebrochen und durch eine Dualität ersetzt worden, nämlich durch den Gegensatz zwischen Frau und Fötus.

Dieser Prozess manifestiere sich auch in der Sprache, merkt die Wiener Sozialwissenschaftlerin Lisbeth N. Trallori an. Der Begriff der "Leibesfrucht", der die Einheit der Schwangeren mit ihrem Kind betont hatte, sei verschwunden, stattdessen würde "dem Fötus" oder "dem Embryo" der Charakter eines eigenen, von der Frau getrennten Subjekts zugesprochen. Heute würde der Fötus begutachtet, kontrolliert und für gut oder schlecht befunden: "Nicht mehr die Frau hat darauf Einfluss, sondern die Wissenschaft, die Medizin und in letzter Instanz der Staat."

Lisbeth N. Trallori, die in den letzten zwei Jahrzehnten mehrere Publikationen zu den Auswirkungen der Gentechnik auf die Frauen verfasst hat1, spricht von einer über zweitausendjährigen "Begierde des Patriarchats, den Fötus zu kontrollieren". Jetzt sei dies erstmals möglich, und die Techniken, die zum Schutz der schwangeren Frauen beitragen sollten, würden sich gegen sie als Geschlecht richten. In China und in Indien wird die Fruchtwasseruntersuchung dazu benützt, zuerst das Geschlecht des Fötus zu bestimmen, um dann weibliche Föten abzutreiben. Das würde zu extrem männerlastigen Gesellschaften führen, kritisiert Trallori mit aller Entschlossenheit: "Das ist ein Femizid - eine technologische Kriegsführung im Frauenleib gegen die weiblichen Föten."

Und noch eine Kritik gibt es an der vorgeburtlichen Diagnostik, die ja möglichst frühzeitig Behinderungen und Missbildungen erkennen will. Denn was ist, wenn die Diagnose ergibt, dass der Fötus geschädigt ist? Da muss die Frau, das Paar eine Entscheidung treffen, also entweder das Kind austragen oder die Schwangerschaft abbrechen. Das entscheidende Kriterium wäre für sie in einem solchen Fall die eigene Lebensqualität, sagt die schwangere Maria H.: "Auf welchen Grad der Einschränkung, bis hin zu welcher Überforderung kann ich mich oder können wir uns als Paar einlassen?" Diese Grenze könne aber nicht für alle verbindlich gezogen werden, meint sie, "es bleibt immer eine individuelle Entscheidung".

Was traue ich mir zu? Was kann ich, was können wir als Paar bewältigen? Und als ob diese Fragen nicht schon schwer genug wären, tut sich im Hintergrund noch eine Frage auf: die, was lebenswert ist und was nicht. Der Befund, dass an einem bestimmten Chromosomenabschnitt eine genetische Veränderung vorhanden ist, sagt ja noch nichts Genaues über die Schwere der Behinderung aus und schon gar nichts über die mögliche Lebensqualität des Kindes.

Brigitte Ratzer vom Institut für Technik und Gesellschaft an der Wiener Technischen Universität verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass in unserer Gesellschaft Schönheit und Gesundheit zentrale anzustrebende Werte sind: "Da schwingt dann immer auch das Urteil mit, dass das Leben mit einer Krankheit wie dem Down-Syndrom nicht lebenswert wäre."

Sie kritisiert das Menschenbild der Gentechniker als verkürzt - weil es den Menschen ausschließlich von der genetischen Ausstattung her definiere und weil esDichtotomien wie "normal" und "pathologisch" bzw. "lebenswert" und "lebensunwert" konstruiere. Eine solche Unterscheidung würden wir ja aus den Programmen von vor 60 Jahren kennen, sagt Ratzer, heute brauche es im Gegensatz dazu gar keine staatlichen Programme mehr, um Behinderung auszuschalten: "Es reicht die gezielte Information: Du kriegst ein möglicherweise behindertes Kind - überleg dir gut, was du damit machst."

Auch Lisbeth N. Trallori sieht in der pränatalen Vorsorge eine "Selektionstechnik", einen Aussonderungsprozess. Im Dritten Reich hätte der Staat die Kriterien vorgegeben, heute würden die zukünftigen Eltern "private Eugenik" betreiben, privatisierte Erbgesundheitspflege sozusagen - und zwar auf freiwilliger Basis. Indem ausgesondert und selektiert werde, bleibe nur das am Leben, was als wünschenswert angesehen wird. Was aber ist wünschenswert in einer Zeit, in der manche Gentechniker das Alkoholiker- oder das Bettnässergen entdeckt zu haben glauben? Und: Darf eine vorgeburtliche Diagnose auch spätere Eigenschaften des Ungeborenen ermitteln?

Umfragen lassen erahnen, wohin die Richtung geht: In Deutschland haben bei einer Befragung 19 Prozent der Schwangeren angegeben, dass sie bei der Diagnose späterer Fettleibigkeit ihr Kind nicht austragen würden, für Österreich gibt es ähnliche Antworten beim Vorliegen einer genetischen Veranlagung in Richtung Homosexualität. Dabei ist freilich anzumerken, dass all diese vermeintlichen "Eigenschaftsgene" nichts anderes sind als bloße statistische Größen - also das Ergebnis von statistischen Untersuchungen, bei denen festgestellt wurde, dass eine Personengruppe mit einer bestimmten genetischen Ausstattung überdurchschnittlich oft eine bestimmte Eigenschaft besitzt. Es kann bislang also keineswegs gezeigt werden, dass in der Person XY das Gen AB eine konkrete Eigenschaft hervorruft.

Das "Aussortieren" von Embryonen mit unerwünschter genetischer Ausstattung wirft eine Reihe von Fragen auf. Legitimiert wird es oft damit, dass der Mensch in die "Lotterie der Natur" eingreifen müsse. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat in diesem Zusammenhang von einer "züchterischen Steuerung der Reproduktion" durch die Gentechnik gesprochen und davon, dass es daher notwendig wäre, "Regeln für den Menschenpark" - so der Titel seiner heftig umstrittenen Rede auf Schloss Elmau im Juli 1999 - zu schaffen. Die Gentechnik lasse den Menschen zum Selektor werden. Diese Rolle verweigern zu wollen sei aber sinnlos, in Zukunft würde es eher darauf ankommen, "das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Kodex der Anthropotechniken zu formulieren".

Für die Technikfolgenforscherin Brigitte Ratzer ist Sloterdijks Eröffnung der Debatte "eine feine Sache": Denn die Auseinandersetzung über die Folgen der Gentechnik müsse geführt werden, in einer solchen Diskussion müsse die Gesellschaft überprüfen, ob sie sich über gemeinsame Werte verständigen könne. Wobei mehrere kontroversielle Ebenen bestehen: Da gibt es etwa den Konflikt zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Frau und dem Lebensrecht von Behinderten, dann die Frage nach den gesellschaftlichen Konsequenzen individuellen Handelns und schließlich den Gegensatz zwischen Forschungsfreiheit und Menschenwürde. Das müsse öffentlich diskutiert werden, meint Brigitte Ratzer und gibt Sloterdijk mit seinem Verlangen nach einem Ethik-Kodex durchaus Recht - auch wenn ein solcher an manch schöner Gewissheit rühren könnte.

Denn ein solcher Kodex würde darauf hinweisen, so der deutsche Philosoph, dass es immer schon zum Credo des klassischen Humanismus gehört habe, den Menschen die "richtige Art von Beeinflussung" zukommen zu lassen. Und die Gentechnik sei nichts anderes als die Fortsetzung dieser Pädagogik mit anderen, jetzt technischen Mitteln. Humanitas meine eben nicht nur die Freundschaft des Menschen mit dem Menschen: "Sie impliziert auch immer - und zwar mit wachsender Ausdrücklichkeit -, dass der Mensch für den Menschen die höhere Gewalt darstellt.

1 Vgl. Lisbeth N. Trallori (Hg.): Die Eroberung des Lebens. Wien 1996 (Verlag für Gesellschaftskritik).

Peter Lachnit ist Historiker und Politikwissenschaftler und arbeitet als Redakteur bei der Ö1-Sendung "Diagonal". E-Mail: Peter.Lachnit@orf.at.

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