Wenn überhaupt, so ist Paul Rabinow hierzulande als kluger Interpret des Werks von Michel Foucault bekannt. Das ist schade, denn der Anthropologe hat in den vergangenen Jahren einige Bücher verfasst, die zum Spannendsten gehören, was die zeitgenössische Ethnologie zu bieten hat. Begonnen hat die wissenschaftliche Karriere Rabinows noch relativ traditionell: Seine ersten Studien führten ihn in ein kleines Dorf im marokkanischen Atlas-Gebirge, wo er über die symbolische Macht von Abkömmlingen eines Heiligen des 17. Jahrhunderts forschte. Mit seinem Buch "Reflections on Fieldwork in Morocco" (1977) war er dann einer der ersten Ethnographen, der sich kritisch-selbstreflexiv mit der Autorität von ethnographischen Beschreibungen befasste. Nach seinen Arbeiten über Michel Foucault Anfang der Achtzigerjahre beschäftigte sich Rabinow mit der Geschichte der Stadtplanung bzw. mit dem Versuch, den Begriff der "Gesellschaft" zu historisieren. Das Hauptargument seines Buches "French Modern" (1989) ist denn auch, dass sich diese Kategorie in den 1830er Jahren in Frankreich herausgebildet habe und dabei als ein Objekt von Wissen und Macht konstruiert worden sei, das sich auch praktisch verändern ließ. Seit rund zehn Jahren treibt der gegenwärtige Leiter des Instituts für medizinische Anthropologie an der Universität Berkeley nun ein Projekt voran, das er "Ethnographie des Gegenwärtigen" nennt und in dem es ihm darum geht, neueste, im Entstehen begriffene Zusammenhänge aufzuzeigen. Als besonders geeigneter Ort für solche Feldforschungen haben sich dabei die zeitgenössischen Laboratorien der Gentechnik herausgestellt - Orte, wo nicht nur neue wissenschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Wirklichkeiten geschaffen werden.
heureka!: Wie kommt es, dass ein Anthropologe, der vor 20 Jahren noch Feldforschung in Marokko betrieben hat, sich nun als Beobachter in Gentechnik-Laboratorien begibt? War das nicht auch für Sie ein großer Sprung?
Paul Rabinow: Ich bin als Anthropologe immer schon an jenen Menschen interessiert gewesen, die autorisiert sind, im Namen der Wahrheit zu sprechen. Insoferne gibt es eine starke Kontinuität in meiner Arbeit, von meiner ersten Feldforschung in Marokko bis zu meinen heutigen Untersuchungen. Gleichzeitig haben sich die Inhalte natürlich beträchtlich verändert. Während ich mir in meinen früheren Arbeiten ansah, wie "Gesellschaft" modernisiert wurde, interessiere ich mich nun dafür, wie durch die neuen Praktiken der Molekularbiologie und der Genomik "Leben" modernisiert wird. Und da ich ein Ethnograph bin, ist es für mich sehr wichtig, einen Ort zu finden, an dem ich nahe bei jenen Leuten sein kann, die neue Praktiken des "Lebens" erfinden bzw. neue Objekte ins Leben rufen.
Für Ihr erstes Buch zu diesem Themenkomplex, "Making PCR", über die Entwicklung der einer für die Gentechnik heute unentbehrlichen Methode, forschten Sie bei Firma Cetus und nicht etwa an "öffentlichen" Labors an der Universität. Warum?
Ursprünglich hatte ich gehofft, am Lawrence Berkeley Lab zu arbeiten, das am Campus von Berkeley angesiedelt ist - einem der zentralen Orte des Humangenom-Projekts. Aber es gab da einige Schwierigkeiten. Ich fragte einige Freunde, und die schlugen mir das Biotech-Unternehmen Cetus vor. Ich rief dort an und mir wurde ein sehr freundlicher Empfang bereitet. Diese Wissenschaftler waren auch viel auskunftsfreudiger und viel weniger geheimniskrämerisch als die Leute in der Universität - eine Erfahrung, die ich später immer wieder gemacht habe. Das Interessante an diesen Leuten in der kalifornischen Biotech-Industrie war, dass sie weder dem alten Universitätssystem noch dem traditionellen pharmazeutischen System entsprachen. Da war ein völlig neuer Typus von Personen entstanden, die autorisiert waren, die Wahrheiten über das Leben auszusprechen.
Ihr aktuelles Buch "French DNA" (siehe Kasten) handelt vom Scheitern einer Kollaboration zwischen einem staatsnahen französischen Forschungsinstitut und einem privaten US-amerikanischen im Jahr 1994. Wie sehen Sie dieses Verhältnis zwischen privater und staatlicher Biotechnologie heute?
Dieses Scheitern setzt sich bis heute fort. Länder wie Frankreich, in denen der Staat eine so zentrale Rolle spielt, tun sich schwer, mit den Bedingungen der Globalisierung gerade auch im Bereich der Gentechnik umzugehen. Im kulturellen Bereich lässt sich leicht sagen: US-amerikanische Filme sind Kulturimperialismus - was sie ja wirklich sind -, und deshalb beschränken wir die Sendezeit im französischen Fernsehen auf eine bestimmte Stundenanzahl. Aber für die Life Sciences geht das nicht. Man wird einfach vom Erdboden hinweggefegt, wenn man sich nicht der Geschwindigkeit der internationalen Forschung und den Einflüssen des globalen Kapitals stellt. Dennoch würde ich es natürlich gerne sehen, wenn die Franzosen einen Weg finden würden, diesen neoliberalen Moloch zu zähmen, den die US-Amerikaner und die Multis in die Welt gesetzt haben. Bis jetzt waren sie diesbezüglich jedenfalls noch nicht einfallsreich genug.
Die Kommerzialisierung von genetischer Information eines Volkes, die in Frankreich noch gescheitert ist, scheint nun in Island zu gelingen. Da sind ab sofort alle "Gene" und Gesundheitsdaten der Einwohner im Besitz der Privatfirma deCode. Was sagen Sie dazu?
Ich bin in diesem Sommer ein Monat in Rejkjavik gewesen, um ein Projekt über deCode Genetics zu beginnen. Was dort passiert, ist aus mehreren Gründen spannend. Zunächst ist noch gar nicht klar, ob das Ganze wissenschaftlich überhaupt irgendeinen Sinn hat. Kari Stefansson, der Gründer von deCode, ist davon jedenfalls überzeugt - und mit dieser Überzeugung hat er auch das Projekt an die große pharmazeutische Welt und an die Risikokapitalisten verkauft. Aber ob das nun zu wissenschaftlichen Durchbrüchen führen wird oder völlig wertlos ist, muss sich erst entscheiden. In Island ist man außerdem in der bisher unbekannten Situation, in der eine neue Form von globalem Kapital, eine neue Art der Life Sciences und ein neuer Humanismus zusammenkommen. Die Insel wird damit zu einer Art von bio-ethischem Laboratorium, das vor allem eine zentrale Frage aufwirft: Bietet die gewählte Vorgangsweise genug Schutz vor allen jenen Gefahren, die da mit im Spiel sind? Das weiß ich auch nicht.
Bei der Lektüre Ihrer Arbeiten fällt auf, dass Sie Eingriffe in die biologische Substanz nicht grundsätzlich ablehnen. Damit befinden Sie sich in Gesellschaft von Peter Sloterdijk, der hierzulande mit ähnlichen Thesen für Aufregung gesorgt hat.
Ich weiß, dass das ein unglaublich explosives und heikles Thema ist. Und ich muss gestehen, dass ich diese Debatte nur in französischer Übersetzung kenne. Meine Position dazu sieht wie folgt aus: Wenn Eingriffe in das biologische Material im Namen der Gesundheit vorgeschlagen werden, dann bin ich durchaus dafür. Das heißt aber noch lange nicht, dass so etwas ohne Beschränkungen und unter allen Umständen geschehen sollte. Sloterdijk sprach auch von etwas, was so klang, als ob es eine platonische Führerklasse geben sollte. Wenn er das tatsächlich so gemeint hat, dann ist das nicht nur verabscheuungswürdig, sondern vor allem sehr blöd. Dafür gibt es nicht die geringste Legitimation. Die letzten, denen ich das Schicksal der Menschheit anvertrauen wollte, wären Universitätsprofessoren.
Wie sehen Sie Ihre Rolle als Erforscher der Biotechnologie? Wollen Sie sich ganz auf das Beobachten beschränken oder auch normativ wirken?
Für mich ist entscheidend, dass man als Beobachter nahe an dem dran ist, was passiert, und es auch versteht. Das ist deshalb so wichtig, weil es einen unglaublichen Hype um die Genetik gibt, der sowohl von jenen Leuten verursacht wird, die mit Biotechnologie Geld machen wollen, wie auch von jenen, die dagegen ankämpfen. Leute wie Kari Stefansson oder Jeremy Rifkin, die uns erzählen, was in Zukunft sein wird, spielen einfach nicht das Wahrheitsspiel. Was nun die normativen Urteile anlangt, denke ich, dass wir einfach noch nicht wissen, wie die aussehen sollten. Jene unter uns, die ein bisschen ernsthafter an die Sache herangehen, sollten sich hingegen das Recht zu denken vorbehalten. Das ist die wahre Ethik, die Intellektuelle haben sollten.
Bücher von Paul Rabinow (Auswahl): (gem. mit Hubert L. Dreyfus:) Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Weinheim 1994 (Beltz Athenäum). 327 S., öS 290,French Modern: Norms and Forms of the Social Environment. Chicago 1989 (Chicago UP). 454 S., US-$ 16.95 Making PCR: A Story of Biotechnology. Chicago 1996 (Chicago UP). 190 S., US-$ 13,Essays on the Anthropology of Reason. Princeton 1997 (Princeton UP). 210 S., US-$ 16.95