255 Kilokalorien zusätzlich pro Tag

Silvia Winkler
vom 21.11.2001

Schwangere Frauen müssen ihre Ernährung umstellen. An Ratschlägen von Medizinern und anderen Expertinnen herrscht wahrlich kein Mangel. Bei der Umsetzung aber hapert es. Warum eigentlich?

Essen für zwei. Ist frau zum ersten Mal schwanger, bleibt nichts in ihrem Leben, wie es war. Die anvisierte Assistentenstelle wird von einem netten Kollegen besetzt. Ist die Phase der morgendlichen Übelkeit endlich überwunden, winkt Verstopfung. Dafür gibt es frei Haus einen Motivationsschub: endlich mit dem Rauchen aufhören und gesund essen. Frau holt sich Rat: Mütter sind im dynamischen Freundinnenkreis rar, also ran an Oma, Mama, Tante, dann zum Hausarzt, Gynäkologen, es gibt auch Bücher, Zeitschriften, und bald, allzu bald, ist die Verunsicherung perfekt.

Erhöhter Nährstoffbedarf ist Konsens, aber wie viel mehr soll es sein? "Jetzt musst du für zwei essen", rät die Familie, die beste Freundin jedoch warnt: "Nimm nur nicht zu viel zu, du bringst das nie wieder weg." Wenigstens die Fachwelt plädiert solidarisch für 255 Kilokalorien zusätzlich pro Tag - eher schwierig einzuhalten, wenn frau jeden Morgen die Hälfte davon von sich gibt. Irgendwann sind Hämorrhoiden und Sodbrennen dann vergessen, und der Appetit stimmt: Nachschlag beim Mittagessen, nächtliche Raubzüge zum Kühlschrank, runder wird frau sowieso.

Aber was darf frau heutzutage noch essen? Wie viel Fett, Eiweiß, Kohlenhydrate? Wer nicht diätgestählt ist, tut sich mit den Vorgaben schwer. Das haben auch die Ratgeber von Berufs wegen erkannt und Speisepläne aufgestellt. Da steht nicht Kohlenhydrate, sondern Nudeln, nicht mehr Eiweiß, sondern Fisch. Nur dumm, dass der Gynäkologe rät, mit Fisch zu sparen, denn dessen Quecksilbermenge könne nahe an der Pathogenität liegen. Den Eiweißbedarf mit einem netten Rindersteak zu decken, daraus wird auch nichts - dort könnten ja die bösen Listerien lauern, diese Bakterien, die zu lebensbedrohlichen Infektionen des Kindes führen können. Ob der kleine Mensch im Bauch aber die gleichen Arzneien braucht, die schon dem Schwein nicht bekommen sind?

Also vegetarisch? Um Himmels willen, nein, meinen die meisten Experten, das sei bedenklich bis vollkommen unzureichend. Auch an der simplen Frage, wie viel getrunken werden soll, scheiden sich die Geister. Möglichst viel, raten die einen - vor Ödemen, die Hände und Füße aufquellen lassen, warnen die anderen. Trinkt frau Milch, lobt ihr Gynäkologe die brave Zufuhr von Kalzium, ihre Hebamme aber beschwört das Risiko der Milcheiweißallergie für das Ungeborene. Was Vitamine, Minerale und Spurenelemente betrifft, finden sich keine zwei gleich lautenden Ratschläge. Wissenschaftlichen Studien zufolge beugt frau Missbildungen übrigens am besten vor, wenn sie schon Wochen vor der Schwangerschaft Folsäure zu nehmen beginnt. Nur dumm, wenn die Schwangerschaft da noch kein Thema war - schon einmal ein schlechter Start. Wer zieht aus all den Widersprüchen schon den Schluss, sich besser gleich auf den eigenen Körper zu verlassen? Ob der einem verrät, was dem kleinen Körper drinnen fehlt?

Kritiker an der Brust. Allen Risiken der Schwangerschaft getrotzt - und für das vom Gynäkologen verordnete Magnesium in der Entbindungsklinik mit Kopfschütteln bedacht -, sind die Probleme mit der Geburt nicht vorbei, sondern stellen sich neu. Beim Stillen hängt der Kritiker an der Brust.

Macht anfangs das Überangebot die Probleme, stellt sich bald die Frage, ob die eigenproduzierten Mahlzeiten dem hungrigen Säuger reichen. Mit Fläschchennahrung schläft das Baby vielleicht doch mal eine Stunde länger, und kann die schadstoffbelastete Muttermilch tatsächlich mit der langen Nährstoffliste auf dem Etikett konkurrieren? Sie kann, es sei denn, frau trinkt zu viel Pfefferminztee, der drückt dann die Milchmenge.

Klappt die Rationierung endlich, ist eine Schlacht gewonnen, der Krieg aber noch lange nicht. Denn trotzdem brüllt das Kind hemmungslos und das bei vollem Magen: Blähungen! Wie ein Damoklesschwert wird der Gedanke daran über jeder Mahlzeit hängen. Den diversen Ratgebern zufolge kommt als Auslöser so gut wie alles infrage: Hülsenfrüchte, Kohl, Zwiebeln, Knoblauch, frisches Gebäck, Kaffee, sogar Mineralwasser stehen im Ruf, den kindlichen Verdauungstrakt zu reizen. Zu durchwachten Nächten gesellt sich erschwerend Psychodruck des jungen Vaters: Musste die Pizza Cipolla gestern Abend wirklich sein?

Knoblauch fürs Stillen. Der hat gut reden. Soll frau sechs Monate lang nur von zerkochten Kartoffeln und Fencheltee zehren? Wird dadurch nicht die Geschmacksentwicklung des Kindes gehemmt? Kann es nicht sein, dass das Baby ein Zwiebelaroma in der Milch mag? Immerhin: Eine verlässliche Vergleichsstudie brachte ans Licht: Hat die Mutter Knoblauch gegessen, saugt das Kind am längsten.

Silvia Winkler (E-Mail: silvia.winkler@tm1.at) ist studierte Physikerin, Mutter zweier Kinder und arbeitet als Softwareentwicklerin in Wien.

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