Protokoll einer Essstörung
Eine Wiener Medizinerin (Name der Redaktion bekannt) berichtet über ihren jahrelangen Leidensweg: "In der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, redete jeder über jeden. Ich bin dauernd mit meiner Schwester verglichen worden. Sogar sehr liebe Leute haben mir gesagt, ich sei fester als sie, dicker als sie. Es hat gestimmt, aber vorher war mir das nie bewusst gewesen. Um abzunehmen, fing ich mit 15 an, jeden Tag zehn, zwanzig Kilometer zu rennen. Abends aß ich nur noch sehr wenig. Selbst mit meiner besten Freundin und meiner Schwester habe ich nie darüber geredet. Ich bin aber nicht von den anderen isoliert worden, ich hab mich selbst isoliert. Als mich Klassenkameradinnen darauf ansprachen, dass ich so dünn sei, war das Balsam auf meine Seele.
Mir ging es super, bis ich mit einer Entzündung der Bauchspeicheldrüse ins Krankenhaus kam. Die erste Woche durfte ich absolut nichts essen und trinken, bekam nur Infusionen. Dann habe ich sehr stark abgenommen. Ich bin 1,65 groß. Als ich rauskam, hatte nur noch 44 Kilo. Jedem Internisten hätte das auffallen müssen, aber sie haben nur meinen Eltern eingebläut, wie streng ich wegen der Infektion Diät halten müsse. Ich dachte: ,Wunderbar, nun kann ich offiziell abnehmen.' Ich quälte mich, fühlte mich hässlich, aber mehr gegessen hätte ich um keinen Preis. Als ich vierzig Kilo hatte, kam ich wieder ins Krankenhaus.
Eigentlich hätte ich eine Psychotherapie gebraucht, aber das hat man damals noch nicht gemacht. Der Internist hat alles als pubertäre Spinnerei abgetan und nur versucht, mich zu mästen. Im Grunde war er mein ernannter Gegner und ich seine ernannte Gegnerin. Meine Eltern zwangen mich zum Essen und stellten mich täglich ein paarmal auf die Waage. Alles war erzwungen, drehte sich nur noch um das eine. Sie sagten: Wenn du fünfzig Kilo wiegst, darfst du nach Wien zum Studium. Bis ich 22 war, kamen sie her, um mein Gewicht zu kontrollieren. Es hat zehn Jahre gebraucht, bis ich mit meinem Essproblem fertig wurde, ausgesprochen habe ich mich mit meinen Eltern aber bis heute nicht. Im Medizinstudium waren die eigene Gesundheit, der eigene Körper nie ein Thema, Ernährung sowieso nicht. Es ist verrückt, dass die Leute in diesem Fach zu rauchen beginnen oder Pillencocktails einwerfen, um die Nacht durchlernen zu können. Ich erinnere mich an keinen Medizinstudenten, der gesund gegessen und gelebt hätte. An Unitagen versorgte ich mich mit Müll, den man geschwind in sich hineinstopft: Wurstsemmeln, Kekse oder Fertigsuppe. Während dem Turnus war es noch schlimmer. Abends um elf stopfte ich hastig Toastbrot in die Backen, weil der Oberarzt fragte, ob ich die Blutkonserven ausgekreuzt hätte, dabei fragte ich mich, warum ich nicht schon umgekippt war.
Zum Glück wohnte meine Schwester im gleichen Wohnheim und kochte abends für mich. Nach ihrer Heirat begann ich, selbst zu kochen. Da bekam ich gerade meine Stelle an einem Klinikinstitut. In die Mensa gehe ich dort nie. Lieber richte ich mir konsequent Vollkornbrote und etwas mit Früchten fürs Mittagessen."