Notausgang zur Natur
vom 08.05.2002
Der moderne Tiergarten ist nicht nur ein Publikumsmagnet, sondern auch ein Eldorado für Verhaltensforscher und Zoologen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat die Verbindung zwischen Zoo und Wissenschaft so manche seltsame Blüte getrieben. Von der Akklimatisierung des Yaks, keuschen Nashörnern und der Rückzüchtung des Auerochsen.
Neue Heimat. "Für das Flachland, wo, wie in Ungarn und Galizien, die Dünnheit der Bevölkerung die Herstellung gut gebauter Strassen und Eisenbahnen verbietet, würde sich ein Versuch mit der Einführung des Kameels, dieses so genügsamen und dauerhaften Lastthiers, das ausserdem noch brauchbare Wolle liefert, wohl der Mühe lohnen", regte der Zoologe Gustav Jaeger im Jahr 1862 an: In den Alpen solle man die Angoraziege und das Lama ansiedeln. Ein Jahr später gründete Jaeger einen Tierpark im Wiener Prater und versuchte, den Worten Taten folgen zu lassen.
Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sich viele Zoos der Akklimatisierung verschrieben. Das tibetische Yak, der südamerikanische Nandu und allerlei überseeisches Geflügel sollten im mitteleuropäischen Klima heimisch werden - vor allem zum Wohle der Wirtschaft. "Die Tiere wurden sowohl im wissenschaftlichen wie auch im symbolischen Sinne von den Kolonialmächten vereinnahmt", wie der Wiener Wissenschaftshistoriker Mitchell Ash erläutert, Herausgeber eines neuen Sammelbandes zum 250-Jahr-Jubiläum des Tiergartens Schönbrunn.
In Frankreich etwa wurden eigene Akklimatisierungsgesellschaften gegründet und zahlreiche Tiere in den Wäldern um Paris ausgesetzt. Die Ansiedlungserfolge aber waren mäßig: Zu wenig war über die Lebensbedingungen und Ernährungsgewohnheiten der Exoten bekannt. Außerdem wusste man etwa mit Indischen Elefanten nichts weiter anzufangen, als Kinder darauf reiten zu lassen.
Um ihr eigenes Dasein zu legitimieren, verwiesen die Tiergärten in der Folge auf ihren Unterhaltungswert für die geschlauchten Städter und die Volksbildung. Zoologen studierten zwar durchaus am lebenden Objekt, im Normalfall aber in ihren eigenen Instituten. Diese Nichtbeachtung provozierte so manche Polemik. So machte sich Ernst Friedel 1872 über den "Balg-Zoologen" lustig, "der nur seine Systematik im Kopfe hat, für den die Thiere erst dann leben, wenn sie todt sind, wenn sie ausgebalgt oder in Weingeist in Reih' und Glied, nach dem neuesten Handbuch geordnet und wohl etiquettiert aufgestellt sind". Und noch 1913 schrieb der Wiener Zoologe Friedrich Knauer: "Über den Nutzen, den ein Zoologischer Garten der wissenschaftlichen Tierkunde leisten kann und soll, war man sich lange selbst in den Kreisen der akademisch Gebildeten, ja unter den fachmännischen Zoologen recht unklar."
Neuerer und Nazi. Dies sollte sich bald ändern. Waren die Zoodirektoren im 19. Jahrhundert oft Gärtner, sind es im zwanzigsten dann Biologen und Tierärzte. Der Zoo wurde zur Keimzelle der frühen Verhaltensforschung bzw. Tierpsychologie, die sich als Disziplin in den Dreißiger-Jahren zunächst außerhalb der Universität etablierte. Einige ihrer führenden Vertreter, wie der Zürcher Heini Hediger, waren Zoodirektoren oder wollten es werden, wie Konrad Lorenz, der sich mehrmals vergeblich um die Leitung des Tiergartens Schönbrunn bemühte. Von 1924 bis 1945 leitete Otto Antonius diesen Tiergarten - eine zentrale Figur in der Verwissenschaftlichung des Zoobetriebes.
"Antonius integrierte die wissenschaftliche Erforschung von Verhalten, Ernährung und aller sonstiger Lebensbedingungen unter den Haltungsbedingungen des Zoos systematisch in dessen Arbeitsprogramm", erklärt die Wiener Wissenschaftshistorikerin Veronika Hofer. Die Idee einer artgerechten Tierhaltung wie auch das Konzept des Territoriums sei von ihm mitentwickelt worden. Die Modernität Antonius' hat aber ein Janusgesicht. Er war einer der Pioniere des Naturschutzes und gleichzeitig überzeugter Nationalsozialist. Als Züchtungsforscher begeisterte er sich für die heute abstrus anmutende Idee, die ausgestorbenen großen Wildsäugetiere Mitteleuropas, Auerochsen und Hirsche, durch Rückzüchtung wieder zum Leben zu erwecken.
Keusche Nashörner. Die Entstehung neuer Forschungsschwerpunkte in der Biologie der Nachkriegszeit hat auch in der Zoowissenschaft ihren Niederschlag gefunden. Die Verhaltensforschung sah und sieht sich stets zwar mit dem Dilemma konfrontiert, im Zoo mit Tieren zu tun zu haben, die unter Bedingungen leben, die vom Menschen geschaffen wurden. Daher kann es methodisch problematisch sein, die Ergebnisse auf die freie Wildbahn zu übertragen. Im Bereich der Immunologie, Parasitologie oder der Genetik hingegen sind die ständige Anwesenheit der Tiere, die örtliche Nähe zu Forschungseinrichtungen und die kontrollier- bzw. manipulierbaren Bedingungen von großem Vorteil.
"Zoos machen Tiere zugänglich", meint Franz Schwarzenberger, Endokrinologe an der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Nashörner etwa kann man so trainieren, dass sie sich ruhig in eine Ecke stellen, sich Blut abnehmen und sogar Untersuchungen im Rektaltrakt über sich ergehen lassen, solange sie gefüttert werden. Flusspferdkot und Nashornharn werden zu wichtigen Informationsträgern. So kann der Hormonhaushalt der Tiere analysiert, nach Brunft und Schwangerschaft gefragt und die Reproduktion befördert werden.
Denn die Fortpflanzung im Zoo kann zum Problem werden. Hält man etwa nicht miteinander verwandte Nashörner von jung auf zusammen, halten sich Männlein und Weiblein für Geschwister und bleiben keusch (siehe auch den Artikel auf S. 20-21). Um die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Tieren zu bestimmen und so Inzucht zu vermeiden, werden genetische Untersuchungen vorgenommen. Die Zoos führen penibel Zuchtbücher und tauschen genetisch passende Partner untereinander aus.
Die Forschungsarbeit in Käfig und Freigehege wird ganz überwiegend von externer Seite betrieben. Der Zooalltag, das Umbauen von Gehegen, die Erstellung von Futterplänen und die expandierende Buchhaltung lassen kaum Zeit für eigene Forschung, bedauert Dirk Ullrich, Kurator für Vögel und Säugetiere im Alpenzoo Innsbruck. Das bestätigt auch Dagmar Schratter, Kuratorin im Tiergarten Schönbrunn, verweist zugleich aber auf gute Kontakte zu den Universitäten: "Wir stellen die Forschungsmöglichkeiten zur Verfügung und profitieren dann auch von den Ergebnissen."
So hat man etwa mittels Kameraüberwachung herausgefunden, dass Elefanten nachts nur wenige Stunden schlafen. Den Rest der Nachtzeit können sie sich jetzt an Futterautomaten laben. Ein Großteil der Forschung bezieht sich also auf den Zoo selbst, auf die Optimierung der Tierhaltung, der medizinischen Versorgung und der Sicherung des Tierbestandes. Denn Tierimporte aus der freien Wildbahn gibt es mittlerweile aus konservatorischen Gründen kaum mehr.
Arche Noah. Mittlerweile widmen sich die Zoos vielmehr dem Gegenteil: Sie bemühen sich um Züchtung und Wiederansiedelung vom Aussterben bedrohter Tierarten, also in gewisser Weise um die Umkehrung der Akklimatisierung. Auswilderung ist freilich ein extrem aufwendiges und heikles Unterfangen. Wie kann man sicherstellen, dass die Zootiere in freier Wildbahn nicht nur überleben, sondern sich auch fortpflanzen? Welche Auswirkung wird die Wiederansiedelung für das Ökosystem der jeweiligen Region haben? Wird man ungewollt andere Arten vertreiben?
All diese Fragen stellen sich etwa beim Auswilderungsprojekt des Przewalski-Pferdes, an dem auch österreichische Zoos und Wissenschaftler beteiligt sind. Dieser Urahn aller Pferdearten ist in seiner mongolischen Heimat praktisch ausgestorben und soll mittels Hightech und ökologischem Feingefühl wieder reimportiert werden. Die Tiere werden mit einem Sender ausgestattet und sind per Satellit punktgenau in der Steppe zu verorten, wo sie mit Wölfen, extremen Temperaturschwankungen zwischen fünfzig Grad über und unter null sowie mitgebrachten Parasiten zu kämpfen haben werden. Ob das Projekt gelingt, wird sich erst weisen.
Gleich ob Akklimatisierung, Verhaltensforschung oder Auswilderung - immer hat die in Zoos betriebene Wissenschaft auch eine legitimatorische Funktion. Jeder Zoo, der etwas auf sich hält, nennt sich "wissenschaftlich geführt". Was die Forschungen in österreichischen Tiergärten angeht, lautet die offizielle Sprachregelung: "nichts vor den Besuchern verheimlichen". Hat man früher eher am Abend gearbeitet, scheut man sich etwa im Salzburger Zoo Hellbrunn heute nicht mehr, Gämsen auch vor Publikum zu betäuben. Doktoranden erklären dann den Besuchern, dass man den Tieren vor der Auswilderung einen Herzsender implantiert. Vielleicht gibt es ja ein Wiedersehen in den umliegenden Alpentälern. Der Herzsender soll Aufschluss darüber geben, ob Skitourengeher oder Snowboarder einen Stressfaktor darstellen.
Mitchell Ash und Lothar Dittrich (Hg.): Menagerie des Kaisers - Zoo der Wiener. 250 Jahre Tiergarten Schönbrunn. Wien 2002 (Pichler).
Die gleichnamige Ausstellung ist vom 24. Mai bis 27. Oktober 2002 im Naturhistorischen Museum in Wien zu sehen.