Jagd nach Mythen
vom 13.11.2002
Die Weisheit der Indianer ist oft beschworen worden, um für Umweltschutz und Naturverbundenheit zu werben. Doch die Vorstellung, die amerikanischen Ureinwohner hätten ausschließlich im Einklang mit der Natur gelebt, stellt sich bei näherer Betrachtung vielfach als Wunschdenken heraus.
"Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann!" Dieser Spruch prangte auf einem langen Plakat, das der Mitgründer von Greenpeace Harald Zindler 1981 von einem Schornstein der Hamburger Pestizidfabrik Boehringer entrollte. Der Satz, der einem gewissen Häuptling Seattle der Cree-Indianer zugeschrieben wird, zierte Poster in Jugendzimmern und wurde auf Abziehbildern vervielfältigt. Er wurde so populär, dass man auch heute noch, mehr als zwanzig Jahre später, in Schulprojekten, Predigten oder Gartenbüchern auf ihn stößt.
"Wie kann man den Himmel kaufen? Die frische Luft oder das perlende Wasser gehören nicht uns. Jeder Ort dieses Landes ist meinem Volk heilig." Auch diese von Aktivisten gerne verbreiteten Sätze stammen angeblich von einem Häuptling Seattle, aber nicht dem Anführer der Cree, sondern von einem Namensvetter vom Stamm der Duwamish. Durch Quellen ist belegt, dass ein Chief Seattle bei Gebietsverhandlungen zum Eisenbahnbau um 1855 die guten Beziehungen zu den Weißen hervorgehoben hat. Ein weißer Freund Seattles rekonstruierte 1887, also gut drei Jahrzehnte später, die "Rede des Häuptlings der Duwamish" und veröffentlichte sie in einer Zeitung. Dafür berief er sich auf seine persönliche Erinnerung. Ob dieser Autor aber an den Verhandlungen teilgenommen hatte, ist nicht belegt.
In den Siebziger- und Achtzigerjahren suchten viele Umweltbewegte nach einem Gegenentwurf zur technisierten Überflussgesellschaft und fanden bei der Lebensweise von Naturvölkern ihr Heilsversprechen. In den Industrienationen war man gerade für Fragen des Umweltschutzes sensibel geworden und suchte nach Vorbildern. Verschiedenen Naturvölkern wurde, ohne zu differenzieren, nachhaltiges Wirtschaften aus einem tiefen spirituellen Wissen heraus zugeschrieben. Wie im 19. Jahrhundert Menschen fremder Kulturen als "edle Wilde" präsentiert wurden, bekamen Naturvölker ein ökologisches Etikett.
Nicht nur Umweltschutzgruppen vereinnahmten Indianer für ihre Ziele, auch Esoteriker, Ökofeministinnen und andere alternative Geister beschworen den Mythos. Der US-Anthropologe Shepard Krech III hat dies in seinem Buch "The Ecological Indian" als einen "Pendelschlag zurück zur Natur" interpretiert. Den nordamerikanischen Ureinwohnern ökologisches Handeln zuzuschreiben fiel besonders leicht, denn sie waren großteils Opfer der Kolonisierung geworden. Ob diese Vorstellungen einer Überprüfung standhielten, interessierte zunächst niemand.
Vieles davon haben Umwelthistoriker und Kulturanthropologen als Mythen und Klischees entlarvt. Auch Andre Gingrich vom Institut für Ethnologie und Sozialanthropologie der Universität Wien widerspricht dem, "was romantische Kräfte in diversen Naturschutz- und Umweltbewegungen Indigenen angedichtet haben und was dann später oft auch von den Führungen mancher Indigenen-Bewegungen selbst in idyllischer Verherrlichung ihrer eigenen Vergangenheit behauptet wurde".
In der Ethnologie setzte sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Einsicht durch, dass andere als die europäischen Kulturen weder edel noch besonders wild sind, sondern dass sie schlicht anderen Prioritäten folgen als jenen, die in der säkularisierten Marktwirtschaft vorherrschen. Immerhin gehört dazu "oft, wenn auch nicht überall, ein größerer Respekt gegenüber der natürlichen Umwelt, als es in vielen Zentren der heutigen Industriegesellschaften gegeben ist", so Gingrich. Dass viele Naturvölker ihre Umwelt als beseelt empfinden, hält sie freilich nicht davon ab, die Natur zu ihrem Nutzen umzugestalten. Dabei stellt sich die Frage: Halten Nehmen und Geben, Ernten und Opfern einander die Waage?
In Nordamerika war Jagen und Sammeln auch dort, wo heutzutage die Kornkammern liegen, die häufigste Art des Nahrungserwerbes. Die gegen Ende der Eiszeit aus Asien eingewanderten Jäger rotteten auf dem amerikanischen Kontinent zahlreiche Tierarten aus. Das hatte später Folgen beim Übergang zur Agrargesellschaft, denn es fehlte die Möglichkeit, Pferde, Rinder und Ziegen zur Arbeitserleichterung bzw. als Milchlieferanten zu domestizieren. Damit waren die Indianer zwar frei von Infektionskrankheiten, die von Nutztieren auf den Menschen übertragen werden. Sie hatten aber keine Widerstandskräfte entwickelt, bevor mit den europäischen Kolonisatoren auch die Krankheitserreger über den Atlantik reisten. Bis zu neun Zehntel der Indianer wurden dahingerafft.
Als zunächst Pferde, später auch Gewehre die Jagd erleichterten, wurde diese effizienter und griff erneut stark in die Natur ein, zumal Tierhäute auch bei den weißen Siedlern sehr gefragt waren. Gejagt wurden Bisons. Riesige Herden bewohnten die Prärie und wechselten in jahreszeitlichen Rhythmen ihre Futterplätze. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts galt die Zahl der Huftiere als unerschöpflich. Sie hatten Indianern seit Urzeiten als Nahrung und Handelsware gedient.
Im Süden Kanadas, an den Ausläufern der Rocky Mountains liegt der Head-Smashed-In Buffalo Jump, der seit mehr als fünf Jahrtausenden den Indianern zur Bisonjagd gedient hatte. Dieser Abgrund wurde 1981 von der UNESCO zum Weltkulturerbe deklariert. Die Indianer waren sich sicher, dass die Bisons, obwohl sie sehr effizient gejagt wurden, in einem ewigen Kreislauf wiederkommen würden. Wegen der guten Absatzchancen ließen sie sich dazu verleiten, mehr zu schießen, als sie selbst brauchten. Nahezu ausgerottet wurden die Bisons aber erst, als ihre Jagd bei den Weißen in Mode kam und sie mit Bisonhäuten für die Lederindustrie große Gewinne machten.
Auch das verbreitete Feuerlegen der Indianer hat der Naturlandschaft ihren Stempel aufgedrückt. Rauchzeichen dienten der Fernkommunikation, in der Kriegsführung wurden ebenso Brände gelegt wie zur Bekämpfung von Mücken und für die Jagd. Auf Böden, die von Natur aus bewaldet wären, entstanden enorme Weideflächen mit vereinzelten Bäumen. Die verbleibenden Wälder sahen aus wie Parks, weil kaum Kräuter und Sträucher darin wuchsen.
Einige Stämme sind ausgestorben, weil sie sich den Umweltbedingungen falsch anpassten. Die Hohokam lebten zunächst über mehrere Jahrhunderte in der Wüste Arizonas. Sie hatten eine Bewässerungsmethode ausgeklügelt, um im Wüstenklima Landwirtschaft betreiben zu können. Doch bewässert man viel, verdunstet auch viel. Zurück bleiben Salze im Boden, die ab einer gewissen Konzentration Landwirtschaft unmöglich machen. Vor etwa 700 Jahren verlieren sich die Spuren der Hohokam im Sand.
Eher nachhaltig wirtschaften einige indigene Völker im Amazonasgebiet, über die Elke Mader forscht. "Ihre traditionelle Form der Bewirtschaftung ist die tropische Waldlandwirtschaft, die optimal angepasst ist, aber nur funktioniert, solange eine Gegend sehr dünn besiedelt ist", erläutert die Wiener Kulturanthropologin. Die Kenntnisse, die für den traditionellen Umgang mit der Natur nötig seien, haben hauptsächlich die älteren Mitglieder der Gemeinschaften. "Die alte Generation stirbt langsam weg, und das Wissen kann nicht an die Nachkommen weitergegeben werden, wenn sie gezwungen sind, vom Wald in die Slums abzuwandern."
Im Amazonasbecken mag noch am ehesten Leben im Einklang mit der Natur zu finden sein, doch gerade dort gehen die Umweltschützer mittlerweile pragmatisch zur Sache. So helfen sie, das enorme Wissen der Amazonasindianer über Pflanzen zu retten. Dabei werden die Indigenen zunehmend als gleichberechtigte Partner akzeptiert, damit die Zusammenarbeit nicht in Ökokolonialismus oder Biopiraterie abdriftet.
Kultur lebt von Anregungen von außen, und sie ändert sich im Lauf der Zeit. Diese Änderungen können Verlust oder Ergänzung bedeuten. So erklärt Elke Mader, dass Naturvölker gute Gründe gehabt hätten, sich in einen globalen Diskurs einzuschalten. "Es sind vor allem politische Gründe. Dabei geht es ihnen um eine Verbesserung ihrer Lebenssituation, die noch bis vor kurzem stark kolonialistisch geprägt war."
Beispielhaft findet Mader jenes Klimabündnis, das Hilfestellungen im Amazonasgebiet mit einer freiwilligen Beschränkung beim Kohlendioxid-Ausstoß in westlichen Städten verknüpft. "Geholfen werden kann beim Einfordern politischer Rechte wie der Landvermessung zur Eintragung ins Grundbuch. Erst so entsteht die Grundlage, damit die speziell angepasste Wirtschaftsweise erhalten werden kann."
Waltraud Niel ist promovierte Botanikerin und Teilnehmerin des Universitätslehrgangs für Wissenschaftskommunikation
(www.scimedia.at).
Andre Gingrich und Elke Mader (Hg.): Metamorphosen der Natur. Sozialanthropologische Untersuchungen zum Verhältnis von Weltbild und natürlicher Umwelt. Wien 2002 (Böhlau). 335 S., e 35,-
Shepard Krech III: The Ecological Indian. Myth and History. London 1999 (W.W. Norton & Company). 318 S., £ 21,-