"Jahrhundertereignisse treten ständig auf"

vom 13.11.2002

Interview: Monika Chabicovsky, Oliver Hochadel und Klaus Taschwer

Das globale Klima erwärmt sich, das steht so gut wie sicher fest. Wie sollen die Forschung und die Politik darauf reagieren? Der Soziologe Nico Stehr fordert: durch vorausschauende Anpassung. Ein Gespräch über die Klimaforschung, meteorologische Extremereignisse, die Letztverantwortung der Politik und mögliche Profiteure der Erderwärmung.

Appelle der Mäßigung bestimmen bislang die Diskussionen darüber, wie man der vom Menschen verursachten Erderwärmung Herr werden könnte. Der deutschkanadische Sozialwissenschaftler Nico Stehr ist skeptisch: Da die Bemühungen zur Senkung der Treibhausgase zu halbherzig seien, komme es vielmehr darauf an, sich an die bevorstehenden Folgen der Klimaveränderungen anzupassen. Stehr, der seit vielen Jahren auch mit Klimaforschern zusammenarbeitet, gehört zu den Produktivsten seiner Zunft und hat zahlreiche Bücher über die komplexen Beziehungen zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik verfasst, so zuletzt unter anderem: "Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften" (2000), "Wissen und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen der modernen Ökonomie" (2001). Demnächst erscheint "Wissenspolitik. Die Überwachung des Wissens". Zurzeit ist Nico Stehr Inhaber der Paul-Lazarsfeld-Professur an der Human- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

heureka: Seit wann weiß die Wissenschaft, dass wir Menschen das Klima verändern?

Nico Stehr: Der Erste, der das behauptete, war ein Geograph namens Eduard Brückner. Der lebte zwischen 1862 und 1927 und war Professor und Rektor an der Universität Wien. Sein Spezialgebiet war die Erforschung der Alpengletscher. Ausgehend von seinen Beobachtungen, vertrat Brückner die These, dass es in Abständen von etwa 35 Jahren zu Veränderungen käme. Das führte er auf menschlichen Einfluss zurück, insbesondere auf die Abholzung der Wälder rund um das Kaspische Meer und das Mittelmeer.

Warum ist der Mann dann heute so gut wie vergessen?

Das hängt zum einen wohl mit dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise zusammen bzw. dem natürlichen Auf und Ab der Themen, die öffentlich diskutiert werden. Zum anderen setzte sich in der Klimaforschung im Laufe des 20. Jahrhunderts die Vorstellung durch, dass Klima etwas Statisches sei - eine Theorie, die bis vor etwa zwanzig Jahren galt, mittlerweile aber widerlegt ist. Und so sind heutige Klimaforscher immer wieder überrascht, wenn sie von Brückner und seinen Behauptungen hören. Die Naturwissenschaft hat ja sehr oft nur ein bescheidenes historisches Gedächtnis: Oft genug kennen heutige Forscher jene Riesen nicht mehr, auf deren Schultern sie stehen.

Wie geht es der Klimaforschung heute?

Materiell betrachtet gehört die Klimaforschung zu den bestausgestatteten Forschungsbereichen überhaupt. In Deutschland wird sogar behauptet, dass sie mehr Geld bekomme als die Krebsforschung. Das stimmt natürlich nur, wenn man jeden Wetterbeobachtungssatelliten und jedes Schiff mitzählt, das Temperaturen misst. Tatsache ist aber, dass die großen Rechner, die von den Klimaforschern gebraucht werden, die teuersten sind, die es gibt. Die Klimaforschung hat sich immer als sehr praktische Wissenschaft verstanden. Die Erkenntnis, ob sich der Golfstrom verändert oder nicht, hat ja unmittelbar praktische Folgen. Die Klimaforschung ist so auch ein gutes Beispiel dafür, dass in Zukunft die Themen, die von der Öffentlichkeit diskutiert werden, von der Wissenschaft erzeugt werden.

Am größten scheint das öffentliche Interesse an der Klimaforschung, wenn das Wetter gerade verrückt spielt.

Das liegt in der Natur der Sache. Ich argumentiere allerdings, dass man von einem Extremereignis wie dem Hochwasser im August nicht auf langfristige, durchschnittliche Veränderungen schließen kann.

Warum nicht?

Ein Extremereignis ist noch lange kein Beweis dafür, dass das Wetter extremer wird. Das ist eine statistische Fehlleistung. Ähnlich wie der Lottospieler, der glaubt, dass, wenn fünfmal die 45 nicht gezogen wurde, es beim sechsten Mal wahrscheinlicher ist. Die Wahrscheinlichkeit bleibt gleich. Dass das Wetter verrückt spielt, ist absolut normal. Jahrhundertereignisse treten irgendwo auf der Welt dauernd auf.

Heute herrscht weitgehender Konsens darüber, dass sich das Klima durch den Einfluss der Menschen verändert - oder zweifeln Sie daran?

Nein. Damit das klargestellt ist: Ich gehöre nicht zur Fraktion der Skeptiker, sondern bin davon überzeugt, dass es anthropogene Klimaveränderungen gibt. Ich bin allerdings gegen die bisherige politische Strategie, die aus dieser Prämisse folgt: nämlich zu versuchen, den Ausstoß der Treibhausgase zu reduzieren, wie dies seit der Konferenz von Rio propagiert wird. Ich halte diese Strategie für falsch und unzureichend.

Warum?

Diese moderaten Reduktionen von Treibhausgasen, die in den bisherigen Verträgen ausgehandelt wurden, haben kaum einen Einfluss auf das Klima, insbesondere nicht auf Extremereignisse. In Kioto hat man sich auf fünf Prozent Reduktion geeinigt - ohne dass klar ist, ob die US-Amerikaner dabei überhaupt mitmachen. Nach den Erkenntnissen der Klimaforscher wäre aber eine Verringerung um siebzig Prozent nötig, damit ein Stopp der Erderwärmung erreicht wird. Das führt also nicht zu wirksamem Klimaschutz!

Was soll man stattdessen machen?

Ich plädiere für Anpassung - sowohl die Wissenschaft als auch die Politik sollte sich auf den Klimawandel einstellen. Meines Erachtens hat die Klimaforschung die damit verbundenen Fragen bisher grob vernachlässigt.

Können Sie Beispiele nennen, was Sie sich unter Anpassung vorstellen?

Grundsätzlich sollten wir uns ja bewusst sein, dass wir alle in einer künstlichen Umwelt leben - und das ist natürlich auch eine Form der Anpassung. Dieser Raum hier hat das Klima der afrikanischen Savanne, vielleicht ein bisschen kühler. Es gibt ja die falsche Vorstellung, dass sich die Eskimos physisch an die Kälte gewöhnt hätten. Aber auch sie leben in einem Mikroklima, das sich kaum von unserem unterscheidet. Auch in ihren Iglus ist es angenehm warm.

Aber können solche Maßnahmen auch bei Naturkatastrophen helfen? Ist da die Gesellschaft nicht doch machtlos der Natur ausgeliefert?

Es sind zumeist nicht die Extreme des Klimas, sondern es ist die politische Ökonomie, die zur Katastrophe und zum Tod von Menschen führt. 1995 gab es in Chicago sieben sehr heiße Tage hintereinander. Während dieser Hitzewelle starben 790 Menschen mehr als in einer durchschnittlichen Juliwoche. 500 bis 600 Todesfälle ließen sich auf die Hitze zurückführen. Schaut man sich diese Zahlen genauer an, stellt sich heraus, dass soziale Marginalität und Armut die entscheidenden Faktoren für den Tod dieser Menschen waren. Das zeigte sich im Vergleich mit anderen Städten wie Philadelphia, die dank Anpassungsmaßnahmen keine Hitzetoten zu beklagen hatten. Dort hat man die armen und kranken Leute in Busse geladen und in klimatisierte Einkaufszentren gebracht. Wenn in Ecuador 10.000 Menschen von einem Erdrutsch verschüttet werden, ist daran nicht allein die Natur schuld, sondern auch die Politik, die zugelassen hat, dass sich die Menschen in einer gefährdeten Region angesiedelt haben.

Was sagt die Politik zu Ihren Vorschlägen?

Die Grünen in Deutschland und wohl auch in Österreich kann man für Strategien der Anpassung nicht interessieren. Die glauben, das sei kontraproduktiv, weil man sich dann nicht mehr um Mäßigung bemühen müsse. "Anpassung" kann mit Mäßigungsstrategien aber durchaus in Verbindung stehen. Solche Maßnahmen nützen das innovative Potenzial von Wissenschaft und Technik, sie greifen lokal und regional - da braucht man dann auch keine globalen Konferenzen wie Kioto oder Rio mehr. Meines Erachtens ließe sich diese Strategie auch politisch besser verkaufen. Ich rechne damit, dass die Steuerzahler einmal gegen die Klimaschutzmaßnahmen und ökologischen Steuern rebellieren werden, wenn sie sehen, dass es nichts bringt.

Lässt sich absehen, wer von der Klimaerwärmung profitieren wird? Gibt es nicht Untersuchungen, wonach vor allem die kühleren Regionen der Erde Vorteile haben würden?

Das ist ein strittiger Punkt. Tatsächlich waren es russische Klimawissenschaftler, die auf solche positiven Effekte aufmerksam gemacht und prophezeit haben, dass ganz Sibirien zu einem Weizenwunderland werden könnte. Das ist aber umstritten. Und die Klimaforscher im Westen reden überhaupt nicht gerne über mögliche positive Effekte etwa in der Agrarwirtschaft. Klar ist aber auch, dass ein Kanadier, der einen siebenmonatigen Winter durchleben muss, es gar nicht abwarten kann, bis sich die Erde erwärmt.

Könnte es für den Norden auch Nachteile geben?

Ein Schreckensszenario der Klimaforschung ist, dass durch die globale Erwärmung immer mehr tropische Krankheiten in den Norden wandern, weil es da wärmer wird. Das Dumme ist nur, dass es Forschungsergebnisse gibt, die zeigen, dass diese Krankheiten sich vor allem aufgrund von Armut verbreiten. Unmittelbar südlich der Grenze zwischen Mexiko und den USA gibt es zum Beispiel tausendmal so viele Fälle von Denguefieber als nördlich davon - und dieser Streifen ist ein paar Hundert Meter breit, und das Klima ist identisch. Diese extremen Unterschiede haben etwas mit den ganz unterschiedlichen hygienischen Voraussetzungen auf den beiden Seiten der Grenze zu tun. Klimaanpassung hieße also auch: die Hygiene und den Wohlstand zu verbessern, um sich zu schützen. Ökologische und ökonomische Ziele schließen sich also nicht aus - im Gegenteil.

Eine Langfassung dieses Interviews findet sich unter www.falter.at/heureka/

Nico Stehr und Hans von Storch (Hg.): Klima, Wetter, Mensch. München 1999 (Beck Wissen). 128 S., e 7,95

Nico Stehr und Hans von Storch (Hg.): Eduard Brückner - The Sources and Consequences of Climate Change and Climate Variability in Historical Times. Dordrecht 2000 (Kluwer). 338 S., $ 167,-

Mehr aus diesem HEUREKA

"FALTER Arena - Journalismus live" - Baumann/Klenk/Niggemeier/Thür - 1. Oktober, Stadtsaal
Diskussion zum Thema "Lügenpresse? Die Vertrauenskrise des Journalismus"