Die Lust an der Angst
vom 07.07.2004
Was Extremsportler in die Eiswüste treibt oder von Hochhäusern springen lässt, hat sich wohl jeder schon gefragt. Ist es die Flucht vor einer bis ins Letzte Regeln unterworfenen Gesellschaft, der Wunsch, seine Grenzen zu erkunden, oder etwa eine neue Variante des Narzissmus? Alles andere als einig sind sich der Soziologe Karl-Heinrich Bette und die Erziehungswissenschaftlerin und Extremkletterin Helga Peskoller.
Freier Fall. 78 tödliche Unfälle umfasst die "Fatality List" auf der Website www.base jumper.org. Die Liste reicht zurück bis zum April 1981, muss immer wieder aktualisiert werden und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Base-Jumper stürzen sich von Gebäuden, Sendemasten, Brücken und Bergen (Buildings, Antennae, Spans, Earth) und erreichen im freien Fall Geschwindigkeiten bis zu 200 Stundenkilometer. Je nach Distanz zum Erdboden haben sie zwischen ein und zehn Sekunden Zeit, um den Fallschirm zu öffnen. Eine Sekunde zu früh oder zu spät kann zum "impact" führen, dem tödlichen Aufprall auf einer Wand oder dem Straßenpflaster.
Wie viele Base-Jumper es weltweit gibt, weiß niemand genau, die Angaben schwanken zwischen 500 und 1500. Diese in vielen Ländern illegale Disziplin ist eine der jüngsten und, was die Rate der Todesopfer angeht, sicherlich die gefährlichste unter den Extremsportarten. Die Öffentlichkeitswirkung ist enorm: Als der Salzburger Automechaniker Felix Baumgartner vor einigen Jahren von der nur 29 Meter hohen Christusstatue in Rio de Janeiro sprang - genauer: von deren rechtem Zeigefinger - ging das Foto um die Welt.
Wie nähert man sich diesem Phänomen, ohne in Plattitüden wie "der Traum vom Fliegen" oder "Selbstbestätigung" zu verfallen? Was lässt sich einem mediengewandten Charismatiker wie Reinhold Messner entlocken, der bei einer Fernsehdiskussion mit dem auch nicht auf den Mund gefallenen Popphilosophen Peter Sloterdijk eindeutig Glaubwürdigkeitssieger blieb?
Extremforscher. Die Aussagen der Extremsportler seien mit Vorsicht zu genießen, warnt Karl-Heinrich Bette. Messner und Co seien längst selbstreflexiv geworden und mit allen philosophischen Wassern gewaschen, um so die Deutungshoheit über ihr Tun zu bewahren. Für sein gerade erschienenes Buch "X-treme" hat der Darmstädter Sportsoziologe daher auch bewusst keine Interviews geführt, sondern lediglich schriftliche Quellen und Talkshows ausgewertet. Bette war früher Zehnkämpfer, Extremsport hat er aber nie betrieben. "Es ist nicht notwendig, in einen Skandal verwickelt zu sein, um über Skandale schreiben zu können", stellt Bette im Interview klar. "Als Soziologe muss man auf Distanz gehen und einen fremden Blick entwickeln."
Psychoanalytische Erklärungen, die bei Extremsportlern eine narzisstische Störung konstatieren, greifen zu kurz, weil sie den gesellschaftlichen Kontext ausblenden. Bette sieht die Ursachen vielmehr in der Ausdifferenzierung der Gesellschaft, der Expansion des Staates und anderer Institutionen, von denen der Mensch mit einem immer dichteren Regelwerk überzogen werde. Diese "Erfahrung der Nichtigkeit und Machtlosigkeit" treibe den Extremsportler in Regionen, die völlig frei von diesem Regelwerk sind, in die Eigernordwand zum Beispiel. Gegen die Routine und Langeweile des modernen Alltags setzen die Kletterer, Skydiver und Base-Jumper auf die lebendigkeitsstiftende Wirkung des Abenteuers. Es geht um die Rückgewinnung von Autonomie, um "Selbstermächtigung", wie Bette es nennt.
Diese Selbstermächtigung werde aber erst durch die Möglichkeit des Scheiterns, durch das bewusst gesuchte Risiko vollkommen. Man will ja gerade der Sicherheit, den Versicherungen und damit auch der Sinnleere entkommen.
Vermittelt wird dies physisch: Der im Alltag nur mehr im Auto oder in der U-Bahn herumtransportierte menschliche Körper wird zurückgewonnen. Der eigene Leib soll durch die extreme Erfahrung der Entbehrung und Erschöpfung bis hin zu Verletzung und Verstümmelung - man denke nur an die abgefrorenen Bergsteigerzehen - von den "Zwängen und Zurichtungen der Zivilisation" befreit werden, wie Bette schreibt.
Rushhour am Gipfel. Ein zentrales Motiv von Extremsportlern ist laut Bette die Möglichkeit, sich von anderen zu unterscheiden, was im Alltag kaum mehr möglich ist. Diese Abgrenzungsmöglichkeit ist aber durch den Boom des Extrem- sports schon wieder bedroht. Marathon und selbst Triathlon sind mittlerweile fast zum Volkssport geworden. Im Ansturm von Durchschnittsalpinisten auf den Himalaja sehen Extremsportler eine Trivialisierung und fast schon Entweihung, zumal wenn auf allzu viele Hilfsmittel zurückgriffen wird. Um sich auch weiterhin abgrenzen zu können, muss man den Berg im eigenen Stil erklimmen: ohne Sauerstoffflasche, über die schwerere Route oder auch ohne Haken und Aluleitern, selbst wenn diese schon im Fels vorhanden sind. Ziele sollen nicht mit dem geringsten, sondern dem höchstmöglichen Aufwand erreicht werden. Das Effizienzprinzip, das Gesellschaft und Wirtschaft bestimmt, wird ins Gegenteil verkehrt.
Der Raum, der durch moderne Transport- und Kommunikationstechnologien zum Schrumpfen gebracht wurde, wird von den Extremsportlern gleichsam zurückerobert. Man geht zu Fuß durch die Antarktis oder die Wüste Gobi. Die vermeintliche Gegenposition zur Moderne birgt einige Paradoxien. Möglich sind die Expeditionen nämlich durch technologische Errungenschaften wie GPS, Satellitentelefon oder Goretexkleidung. Ohne Kamera geht es natürlich auch nicht. Und das ultimative Hilfsmittel sind die Sponsoren: Felix Baumgartner hat die Christusstatue in Rio mit einem Seil erklommen, aber auch mit Unterstützung einer Getränkemarke, die angeblich Flügel verleiht.
Fasziniert vom Phänomen. Einen ganz anderen Zugang als Bette hat Helga Peskoller. Die Erziehungswissenschaftlerin von der Universität Innsbruck setzt auf Phänomenologie statt auf Kontext, auf Innen- statt auf Vogelperspektive, auf Respekt statt auf Misstrauen. Peskoller hat selbst 24 Jahre extremes Klettern betrieben und ist skeptisch gegenüber Autoren, die über etwas schreiben, das sie nicht aus eigenem Erleben kennen: "Die bleiben in der Perspektive von außen gefangen und müssen auf Klischees zurückgreifen." Das Gerede von der "Langeweile" oder dem sich-Abheben von den anderen könne sie nicht mehr hören: "Es geht mir darum, komplexe Formen von Erfahrung darzustellen."
Peskoller beschäftigt sich seit Jahren mit Extremsportlern wie dem steirischen Base-Jumper Hannes Arch, der mit Sprüngen vom Eiger und vom Matterhorn Furore machte. Immer wieder führt sie lange Interviews, wobei sie Erklärungen und Begründungen ausspart, um nicht vorschnell zu verallgemeinern und das Phänomen zu verdecken. Peskoller nennt ihre Methode die "genaue Nachschreibung".
Anhand von extrem verlangsamten, fast zum Stillstand gebrachten Videoaufnahmen analysiert sie die Bewegungen von Kletterern in der Wand und von Base-Jumpern während des Fluges. "Die Bewegungen sind weniger aktiv als angenommen, vor allem beim Base-Jumper. Gegen die Schwerkraft kann man sich nicht wehren. Es geht hier nicht mehr um Handeln, sondern um Wirksamkeiten." Laut Peskoller schwebt der Base-Jumper zwischen Subjekt und Objekt. Das Subjekt werde zwar nicht zerstört, aber in eine starke Ambivalenz gebracht.
"Base-Jumper sind noch viel ruhiger als Kletterer. Dabei ist der Aufruhr des Körpers beim Springen noch heftiger als beim Klettern." Man müsse sich in- und auswendig kennen, denn Gefühle ließen sich am Rande des Abgrunds nicht verdrängen. "Man muss sie zulassen und sich fragen: Soll ich oder soll ich nicht? Habe ich das restlos für mich geklärt?" Für Peskoller ist dieser Moment vor dem Fall ins Nichts eine "moralische" Entscheidung: "Manchmal springt er ja auch nicht."
Die Kritik des Soziologen Bette, der einen "Kult von Authentizität" am Werk sieht und ihr direkt die Heroisierung ihrer Untersuchungsobjekte vorwirft, weist Peskoller zurück. "Die Selbstermächtigung im Extremsport ist eine klägliche. Die Kletterer und Springer haben die eigene Gebrechlichkeit und Nichtigkeit doch ständig vor Augen." Dazu bedarf es keines Blicks auf die "Fatality List".
Karl-Heinrich Bette: X-treme. Zur Soziologie des Abenteuer- und Risikosports. Bielefeld 2004 (transcript). 156 S., e 15,30
Helga Peskoller: extrem. Wien 2001 (Böhlau). 310 S., e 27,80