Feuer für Olympia

Kai Michel
vom 07.07.2004

Sportliche Wettkämpfe waren im antiken Olympia eher Beiwerk. Zunächst war es ein Ort des Orakels, der Religion und der Kultur. Was wahr ist und was dazuerfunden wurde, weiß keiner besser als der seit fast zwanzig Jahren die Grabungen in Olympia leitende Archäologe Ulrich Sinn.

Seitdem Boris Becker und Steffi Graf ihre Tennisschläger an den Nagel gehängt haben, ist Ulrich Sinns Leben leichter geworden. Immer weniger deutsche Touristen wollen von ihm, dem im griechischen Olympia tätigen Archäologen, wissen, wo denn die antiken Tennisplätze gewesen seien. Nun muss er nur noch jene Urlauber enttäuschen, die nach dem olympischen Feuer suchen. Doch an die hat er sich längst gewöhnt. So wie er sich auch damit abgefunden hat, ungläubige Blicke zu ernten, wenn er erklärt, nicht auf der Peloponnes sei das olympische Feuer erfunden worden, sondern in Berlin 1936 von den Nazis.

Ulrich Sinn klärt die Menschen gerne auf. Aller Bildungsdünkel liegt ihm fern. Der Würzburger Ordinarius für klassische Archäologie, der seit 1985 die Grabungen in Olympia leitet, ist ein durch und durch freundlicher Professor, der bereitwillig über seine Arbeit Auskunft gibt. Auch sein Büro kommt ganz unprätentiös als gewöhnliche Gelehrtenstube daher - und das, obwohl es in der prächtigen Würzburger Residenz liegt, einem kolossalen Barockschloss. Dicke Foliobände drängeln sich in den Regalen, Athena und Herakles lächeln gipsern vom Schrank herab, und die Apfelsaftkisten stapeln sich unterm Tisch.

Gleichwohl ringt Ulrich Sinn um seine Contenance - immer dann, wenn es um die Olympischen Spiele geht, die im Sommer in Athen stattfinden. "Da wird alles mit Füßen getreten, was authentisch antik ist", schimpft er. Ihn wurmen nicht nur die weiß gewandeten Hohepriesterinnen, die vor den Kameras der Welt das Feuer entzünden und ins Stadion tragen: "Priesterinnen gab es im olympischen Zeus-kult nicht, und Frauen war, wenn sie verheiratet waren, der Zutritt zum Stadion verboten." Vor allem ist es die Idee, wenigstens mit einem Wettkampf nach Olympia zurückzukehren, die seinen Unmut provoziert. "Als ich erfuhr, dass das Kugelstoßen im antiken Stadion ausgetragen werden soll", sagt Sinn, "war ich entsetzt." Die Ausgrabungsstätte wird unter den Zuschauermassen und dem Medienrummel massiv leiden. "Auf den mühsam rekonstruierten Rängen des Stadions sollte eigentlich niemand mehr rumlaufen." Besonders ärgert ihn die Ignoranz der Veranstalter, die das Kugelstoßen wählten, um an den antiken Ursprung der Spiele anzuknüpfen: "Kugelstoßen war in der Antike nie olympisch." Dem Protest, den Sinn gemeinsam mit Kollegen einlegte, war nur ein Teilerfolg beschieden: Wenigstens Qualifikation und Siegerehrung finden in Athen statt.

Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Ulrich Sinn ist weder Eiferer noch Bilderstürmer. Das zeigt auch sein neues Buch "Das antike Olympia" (siehe Kasten). Ganz en passant zerstört er darin einen olympischen Mythos nach dem anderen - der Leser merkt es kaum. Effekthascherei liegt dem Professor fern, dabei hat es seine Hauptthese in sich: Der Sport war im antiken Olympia nicht die Hauptsache. "Die vielfach verbreitete Überzeugung, die Griechen hätten Olympia um der sportlichen Wettkämpfe willen gegründet", sagt Sinn, "ist falsch." Auch jenes Datum, das Generationen von Schülern repetieren mussten - 776 v. Chr.: die ersten Olympischen Spiele -, sollte man aus den Schulbüchern streichen: "Das Heiligtum ist bedeutend älter, die Sportwettkämpfe sind jünger."

Der 1945 in Bad Bevensen geborene Landarztsohn kam auf Umwegen zur Archäologie. Zunächst belegte er Sonderpädagogik. Erst ein museumspädagogisches Projekt lockte ihn auf antike Pfade: Er wechselte zur klassischen Archäologie nach Freiburg. Seine fachlichen Sporen verdiente er sich dann als Ausgräber in griechischen Heiligtümern wie dem Heraion von Samos oder dem Artemis-Heiligtum im arkadischen Lusoi.

"Dieser Zugang von außen ist für meine Arbeit entscheidend gewesen", sagt Sinn. In der Archäologie dominierte lange die Auffassung, dass, wer griechische Heiligtümer verstehen wolle, nur nach Olympia schauen müsse: "Da ist so viel ausgegraben worden, da kennt man die Topografie, da ist die große Kunst." Olympia galt als idealtypisch: "Da muss man nicht mehr nach links und rechts gucken." Bei ihm war es genau andersrum. "Für mich war Olympia erst einmal ein Heiligtum wie viele andere." Da der Fundvergleich zeigte, dass Olympia ganz schlicht begonnen hatte, leitete ihn die Frage: "Wie errang dieses 08/15-Heiligtum, das Olympia anfangs war, seine einzigartige Ausnahmestellung?"

Schuld daran ist etwas, dessen Bedeutung lange Zeit übersehen wurde: das Orakel. Denn auch in dem im 11. Jahrhundert v. Chr. begründeten Zeusheiligtum taten Seher ihren Dienst - und zwar äußerst erfolgreich. Seltsamerweise taucht dieses Orakel in den antiken Quellen kaum auf. Das lag daran, so Sinn, dass "die von Zeus inspirierten Seher ihre Funktion überwiegend im Außendienst wahrnahmen". Sie zogen an der Seite der Feldherrn in die Schlacht - "embedded" sozusagen - und bestimmten den günstigsten Zeitpunkt zum Angriff.

Der Erfolg des Orakels spülte viel Geld in die Tempelkassen: jeweils den zehnten Teil der Kriegsbeute. Auch fühlten sich die ständig in gewalttätige Händel verstrickten Griechen bemüßigt, hier ihre Siegesdenkmale zu errichten - Zeus zum Dank und als triumphierendes "Ätsch" an die Unterlegenen. "Olympia zog alle Augen auf sich und bot eine Kulisse, wie sie nirgends sonst in Griechenland zu haben war."

Sport wurde hier zunächst keiner getrieben. "Panegyris hießen die Kultfeste", sagt Sinn. "Das heißt: festliche Versammlung des ganzen Volkes." Auch wenn im Zentrum die Opferhandlungen standen, so war das Drumherum, das gesellige Beisammensein und der große Markt, ebenso wichtig. Irgendwann tat man es dann anderen Heiligtümern gleich, wo es längst sportliche Wettkämpfe gab. Um etwa 700 v. Chr. wurde das erste Stadion gebaut.

Da Olympia solch eine grandiose Bühne bot, kamen bald die besten Athleten aus der ganzen hellenischen Welt. Die maßen sich in den "gymnischen Agonen", wie Stadionlauf, Speer- und Diskuswurf, oder dem "Pankration" (Allkampf) sowie in den "hippischen Agonen", also Pferde- und Wagenrennen, um im Siegesfall mit einem Ölbaumzweig bekränzt zu werden. Immer wieder aber stahlen ihnen andere die Show: 476 v. Chr. wurde Themistokles, der athenische Bezwinger der Perser, als "Stargast" bejubelt. Der Geschichtsschreiber Herodot stellte hier seine "Historien" vor; danach kannte ganz Griechenland seinen Namen. Und immer wieder wurde beklagt, dass viele nur kämen, um die riesige Zeusstatue des Phidias im Zeustempel zu bestaunen; sie galt als eines der sieben Weltwunder. Manch einer brach sich eine Locke als Souvenir ab.

Die Kunst zog auch die Nachwelt in ihren Bann. Pausanias hatte in seiner im 2. Jahrhundert verfassten "Beschreibung Griechenlands" begeistert all die Siegerstatuen und Götterbildnisse beschrieben. Dass in Olympia die griechische Kunstgeschichte mit den besten Werken vertreten war, sagt Sinn, motivierte von Anfang an die Ausgräber. 1874 schlossen Griechenland und das Deutsche Reich jenen Staatsvertrag ab, der im Grunde bis heute die Basis der vom Deutschen Archäologischen Institut in Athen initiierten Forschungen bildet. Zwar blieben, von Ausnahmen wie dem Hermes des Praxiteles oder der Nike des Paionios abgesehen, spektakuläre Funde aus. Dennoch galt Olympia als der Ort, an dem Großes zu entdecken war.

Selbst Kollegen fragen oft: "Was ist das Sensationellste, was Sie bisher in Olympia gefunden haben?" Sinn antwortet dann: "Das Sensationellste ist, dass wir hier langfristig graben können, ohne etwas Sen-sationelles finden zu müssen." Der Archäologe ist nicht auf der Jagd nach ästhetischen Highlights, ihn treibt historisches Interesse. "An einem Tempel kann ich erkennen, wann er gebaut oder wo er repariert wurde; ein Speiselokal, eine Wasserleitung geben Auskunft, wie der Alltag im Heiligtum funktionierte." Wer einen Eindruck von dieser Atmosphäre bekommen möchte, kann übrigens getrost zu "Asterix bei den Olympischen Spielen" greifen. Von der campingplatzartigen Unterbringung bis zum reich gedeckten Mittagstisch in Laubhütten ist das, so Sinn, "mit einigen Ausnahmen phantastisch recherchiert".

Sinn und sein Team gruben vor allem dort, wo seine Vorgänger aufgehört hatten, weil die Funde aus nachklassischer Zeit stammten, also aus der Zeit des angeblichen Niedergangs. Dort stießen sie in einem Latrinenabfluss auf eine Inschriftentafel, die 18 Olympiasieger des 4. Jahrhunderts vermerkte - in immer noch den gleichen Disziplinen wie all die Jahrhunderte zuvor. Für Sinn ist das ein Indiz dafür, dass nicht einmal für die spätrömische Zeit von einem Niedergang Olympias die Rede sein kann.

Natürlich hofft der Archäologe auch, bedeutende Kunst zu finden. "Wir gruben einmal im Inneren eines Gebäudes und waren überzeugt, dort ein Mosaik zu finden." Fehlanzeige! Die Raumeinfassung war noch da, nicht aber der Bodenschmuck. Die Enttäuschung währte nicht lange: Der Fund stützte Sinns These, dass das Heiligtum nicht, wie oft kolportiert, von den Christen kurz und klein geschlagen, son-dern behutsam umgenutzt worden war. Hier hatte man nicht nur das Mosaik entnommen, sondern auch gleich den ganzen Estrich, um ihn zu recyceln. Erst Erdbeben und Überschwemmungen haben Olympia von der Bildfläche getilgt.

"Ich war mal Kreismeister im 400-Meter-Lauf", antwortet der Olympia-Ausgräber auf die Gretchenfrage unsrer Tage, "Wie hast du's mit dem Sport?". Und fügt hinzu: "Auf sehr antike Weise habe ich ge-wonnen: staubfrei!" So hieß das, wenn bei den Griechen ein Athlet zum Sieger erklärt wurde, weil niemand wagte, gegen ihn anzutreten. Eilte ihm also der Ruf voraus, ein moderner Milon von Kroton zu sein? Der sechsmalige Olympiasieger soll mit einem Ochsen auf den Schultern durchs Stadion gelaufen sein. Ulrich Sinn lacht: "Ich war zwar barfuß schneller als die meisten anderen mit ihren Spikes - aber es hatte sich damals einfach niemand sonst für das Rennen gemeldet."

Heute bleibt für Sport keine Zeit. Sinn ist ja auch Vizepräsident der Würzburger Universität und leitet das Martin-von-Wagner-Museum, das neben Oxford als größte Universitätssammlung der Welt gilt. Hier kann er seiner pädagogischen Neigung freien Lauf lassen: Gemeinsam mit Studenten werden die Ausstellungen erarbeitet. Trotzdem hat auch Ulrich Sinn dem olympischen Geist einen kleinen Tummelplatz reserviert: Für die zwei Stockwerke aus seinem Büro hoch ins Museum verzichtet er auf den Lift. Er nimmt die Treppen. "62 Stufen! Immer zwei auf einmal!"

Ulrich Sinn: Olympia. Kult, Sport und Fest in der Antike. München 2002 (Beck'sche Reihe), 123 S., e 8,20

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