Der Nicht-Wissen-Schaftler

Oliver Hochadel
vom 21.11.2007

Ignoranz hat viele Gesichter und Ursachen, sagt Robert Proctor. Der US-Wissenschaftshistoriker hat mit dem Nichtwissen ein neues und fruchtbares Forschungsfeld erschlossen. Ein Porträt.

Ein neues Wort. "Agnosiology“? Oder besser "Agnotometry“? Gar "Agnoscopy“? Im Jahre 1992 war Robert Proctor auf der Suche nach einem passenden Begriff für sein Forschungsgebiet und nahm dabei die Hilfe des Linguisten Iain Boal in Anspruch. Am Ende entschied man sich, auch weil es besser klingt, für "Agnotologie“: die Lehre von der Geschichte und der Entstehung des Nichtwissens. Proctor, Wissenschaftshistoriker an der Stanford University in Kalifornien, ist einer der Pioniere der Nichtwissensforschung.

Und die ist in den letzten Jahren bei Historikern und Sozialwissenschaftlern so richtig in Mode gekommen, denn an einschlägigen Fällen mangelt es nicht: Man denke nur an die Unsicherheit angesichts der möglichen Folgen der Handystrahlung, das Leugnen des Klimawandels durch wissenschaftlich fragwürdige, industriefinanzierte Studien, den Fundamentalismus der Kreationisten, aber auch an das Recht auf Nichtwissen, etwa was die eigenen Erbanlagen angeht. Nichtwissen gibt es also in den unterschiedlichsten Formen und aus den verschiedensten Gründen. Als da wären: Geheimhaltung, Dummheit, Apathie, Zensur, Desinformation, Glauben, Vergesslichkeit, Selbstschutz. "Die Menschen denken, sie wissen viel“, sagt Proctor: "Aber von all den Dingen, die gewusst werden könnten, weiß die Wissenschaft so gut wie nichts. Was vor dem Big Bang war, über die unzähligen Planeten und Himmelskörper im Weltall haben wir so gut wie keine Ahnung. Was unsere Erde angeht, kennen wir nur die Oberfläche.“

Ist das ein Problem? "Nein, das ist die Realität. Das sollte Anlass zur Demut sein. Neandertaler hatten vielleicht Namen, die wird man nie in Erfahrung bringen. Aber andere Dinge kann man wissen, etwa was Evolution angeht oder die Gefahren des Tabakkonsums.“

Dass das Letztere gezielt verheimlicht wurde, ist für Proctor zu einem Paradebeispiel für die Produktion von Nichtwissen geworden. Nach einem Bachelor in Biologie an der Indiana University in Bloomington ging der heute 53-Jährige 1976 für sein Postgraduate- Studium in Wissenschaftsgeschichte nach Harvard. In seinem ersten Buch, "Racial Hygiene. Medicine under the Nazis“ (1988), zeigte er, dass die Ärzte im Dritten Reich keineswegs unbeteiligt waren, sondern aktiv an den Verbrechen mitwirkten. Als Nächstes nahm sich Proctor die Auseinandersetzungen um die Krebsforschung nach 1945 vor.

Alibiforschung. In den USA formte sich Mitte der Fünfzigerjahre ein wissenschaftlicher Konsens, wonach Rauchen für Lungenkrebs verantwortlich sei. Die Tabakindustrie war alarmiert. Während Philip Morris und Co. in offiziellen Stellungnahmen immer wieder betonten, dass sie "nie ein Produkt herstellen und vertreiben werden, von dem gezeigt wird, dass es Ursache für Krankheiten ist“, starteten sie gleichzeitig, so Proctor, eine der "ehrgeizigsten und erfolgreichsten Betrugskampagnen der Moderne“.

Um sich als verantwortliche Industrie zu stilisieren, die sich ganz dem Urteil der Wissenschaft unterwerfen, gründeten die Konzerne das Council for Tobacco Research und investierten Hunderte Millionen Dollar, um die Gefahren des Rauchens zu erforschen - vermeintlich.

So identifizierte etwa die Zeitschrift Tobacco and Health Report in den Jahren 1963/64 die Ursache für Lungenkrebs in Vogelhaltung (Milben im Gefieder), Erbanlagen, Viren, Luftverschmutzung und allen anderen möglichen Gründen, außer eben, Überraschung, Tabak.

Kein Beleg war der Tabakindustrie gut genug, weder aus Tierversuchen ("nicht übertragbar“) noch aus epidemiologischen Studien ("bloße Statistik“) ging für sie die Gesundheitsgefährdung ihres Produkts hervor. Gemäß ihrer Logik hätte man an Menschen experimentieren müssen. "Big Tobacco“, wie Proctor zu sagen pflegt, warnte vor vorschnellen Schlussfolgerungen Krebs sei schließlich eine komplexe Krankheit und tat alles, um den Eindruck zu erwecken, es gebe noch eine Kontroverse. Bis in die Neunzigerjahre, also nach vierzig Jahren gesponserter Forschung, war für die Tabakindustrie die Frage der Gesundheitsgefährdung durch Tabak offen.

Zweifel säen. Diese Filibuster-Forschung - Filibustieren meint das end- und meist auch sinnlose Reden im Parlament, um Abstimmungen zu verhindern - diente einzig und allein dem Zweck, Zeit zu schinden, um so weiter möglichst viele Zigaretten verkaufen zu können. Dabei musste die Tabakindustrie auf der Hut sein, dass die von ihnen finanzierten Untersuchungen nicht doch unerwünschte Ergebnisse zeitigten, und stellte daher die beteiligten Wissenschaftler unter die Aufsicht von Anwälten. Auf diese Alibiforschung konnte Big Tobacco sich in den Entschädigungsprozessen berufen: Man habe stets verantwortungsbewusst gehandelt.

Proctor zitiert zahlreiche interne Dokumente, die klar bezeugen, dass hier eine ausgeklügelte Strategie verfolgt wurde. "Zweifel ist unser Produkt“ heißt es etwa in einem Memo der Brown & Williamson Tobacco Company aus dem Jahre 1969. Für Proctor ein Fall von "Agnogenesis“, der absichtlichen Erzeugung von Zweifeln oder Nichtwissen.

Selbstredend versucht jede Industrie die Risiken ihrer Produkte herunterzuspielen, aber die Tabakindustrie bleibt unerreicht, was die Abgebrühtheit ihrer Vernebelungstaktik sowie ihre verheerenden Folgen angeht. Ohne diese Jahrzehnte währende Verzögerungstaktik wären die Raucherzahlen nie so stark gestiegen bzw. schneller gefallen, glaubt Proctor. Allein in den USA sterben laut Schätzungen des U.S. Surgeon General pro Jahr 400.000 Menschen an den Folgen des Rauchens. Weltweit sind es nach Berechnungen der WHO jährlich etwa fünf Millionen Menschen, bis 2025 wird diese Zahl auf zehn Millionen ansteigen. Geschichte kaufen. Ab den Achtzigerjahren wurde die Tabakindustrie mit Klagen und Schadensersatzforderungen in Milliardenhöhe überzogen. Dabei ging es auch um die Frage, ob und ab wann die Tabakindustrie gewusst hatte, dass Rauchen zu Lungenkrebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen führt.

In diesen Prozessen verfolgte die Verteidigung eine gleichermaßen dreiste wie schizophren anmutende Doppelstrategie: Jeder wusste es, aber es gab keinen Beweis - so bringt es Proctor auf den Punkt. Sprich: Otto Normalraucher sei bewusst gewesen, welches Risiko er einging, die Experten hingegen hätten sich vergeblich um einen stichhaltigen Nachweis bemüht. Die dahinterstehende Absicht ist leicht zu durchschauen. Der Raucher darf sich nicht beschweren, dass er an Lungenkrebs stirbt, während die unschuldige Industrie ja Millionen in die Forschung investiert habe.

In diesen Prozessen hat die Tabakindustrie immer wieder Medizinhistoriker mit lukrativen Verträgen als Sachverständige verpflichtet. Peter English etwa, Medizinhistoriker an der Duke University in North Carolina, verdiente in den Jahren 1988 bis 1990 und 2001 bis 2002 mindestens 800.000 Dollar. Proctor hat in mühsamer Archivarbeit insgesamt drei Dutzend solcherart beschäftigte Kollegen identifiziert. Das Pikante daran: Keiner dieser Medizinhistoriker hatte zuvor über Tabak geforscht.

Hatte die Tabakindustrie zunächst versucht, die Laborforschung zu kaufen, stand nun die Historikerzunft in ihrem Sold. Die Aufgabe war dieselbe: Nebel werfen, Zweifel säen, die Geldgeber reinwaschen.

Für Proctor sind ihre Gutachten und Aussagen bei Gericht von Verzerrungen und Auslassungen gekennzeichnet. Immer wieder argumentierten sie: Geschichte sei eben kompliziert oder "unordentlich“ und könne nicht vom Standpunkt der Gegenwart aus beurteilt werden. Dabei ging es etwa um Fragen, wie verlässlich die epidemiologischen Studien der 1950er-Jahre waren. Dass es nicht mehr um die Frage ging, ob Rauchen zu Lungenkrebs führe, sondern auf welche Art und Weise sie das tue, also welche Stoffe dafür verantwortlich seien, verschwiegen die Experten geflissentlich. Ein Schandfleck für die Historikerzunft, wie Proctor findet. Auch bei ihm selbst wurde von einer Rechtsanwaltskanzlei angefragt, ob er in einem Prozess als Gutachter für ein Tabakunternehmen arbeiten würde, in dem es darum ging herauszufinden, was in den Dreißigerjahren über Nikotinabhängigkeit bekannt war: "Meine Antwort bestand aus sieben Worten: Ich arbeite nicht für Händler des Todes.“ Proctor ist seit 1998 als Gutachter für die Anklage tätig, als einer von insgesamt gerade einmal drei Historikern.

Nazis und Nichtraucher. Proctor hatte nämlich gezeigt, dass es deutschen Medizinern während des Dritten Reiches als Ersten gelungen war nachzuweisen, dass Rauchen krebserregend ist. 1939 konnte Franz Hermann Müller durch detaillierte pathologische Fallstudien erstmals den kausalen Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs zeigen und ihn epidemiologisch zu untermauern. Im selben Jahr wies Fritz Lickint nach, dass Tabaksqualm auch Nichtraucher schädigt, und prägte den Begriff des Passivrauchens. Das war "Weltklasseforschung“, so Robert Proctor in seinem preisgekrönten und in sechs Sprachen übersetzten Buch "Blitzkrieg gegen den Krebs“ (englisch 1999, deutsch 2002). Unser gern gehegtes, zweigeteiltes Bild von der "guten“, demokratischen Wissenschaft und der "schlechten“, ideologisch verblendeten Wissenschaft totalitärer Regime sei nicht länger haltbar. Und jetzt kommt das eigentlich Verwunderliche. Die deutsche Krebsforschung sei nicht trotz, sondern wegen der besonderen ideologischen Bedingungen des NS-Regimes so erfolgreich gewesen.

"Die Nazis fürchteten kleinste Wirkstoffe, die den, Volkskörper‘ infiltrieren: Asbest, Blei, Arsen, Quecksilber und Tabak, aber auch Juden und, Zigeuner‘“, zählt Proctor auf: "Hitler und seine Anhänger waren besessen von körperlicher Reinheit und wollten ein exklusives, sanitäres Utopia errichten, wo das Wasser, die Arbeit und die Lungen des, erwählten Volks‘ rein sind.“ Folglich wurden Arbeitsmedizin und Krebsforschung stark gefördert.

Wissen im Abseits. "Diese Forschungen sind aber in einer ideologischen Lücke gelandet“, konstatiert Proctor. Medizinhistoriker, darunter zunächst auch er selbst, hatten sich bis dato immer nur für die kriminelle Seite der Nazimedizin interessiert: Menschenversuche, Euthanasie, Zwangssterilisierung. Müllers Pionierleistung aus dem Jahre 1939 war in den USA bekannt und wurde gelegentlich auch zitiert. "Aber niemand konnte Interesse daran haben, diese Geschichte zu erzählen, also hat sie niemand erzählt“, resümiert Proctor. Zu sagen: "Rauchen ist krebserregend, das wussten schon die Nazis“, war für Gesundheitsaktivisten kein brauchbares Argument. Stattdessen diffamierten Zigarettenhersteller die Tabakgegner in der Nachkriegszeit gerne als "Nikonazis“. Proctor nennt das die soziale Konstruktion des Nichtwissens.

Die Siegermacht USA interessierte sich nach 1945 für die militärisch relevanten Aspekte der Naziwissenschaft: die biologische Kriegsführung und die Raketenforschung. Die Krebsforschung wurde nicht rezipiert. Die USA schifften stattdessen 1948/49 90.000 Tonnen Tabak kostenlos nach Deutschland. Ein Zwölftel aller Leistungen (und damit ein Drittel der Lebensmittel) des Marshallplans bestanden aus Tabak. Es ging hier nicht nur um Hilfe, sondern auch um dringend benötigte neue Absatzmärkte für die US-Tabakindustrie, die Überschüsse produzierte. Die Exportoffensive trug Früchte: War der Tabakverbrauch in Deutschland zwischen 1940 und 1950 pro Kopf um die Hälfte gesunken - Proctor führt dies aber weniger auf die Antitabakkampagnen der Nazis als auf den Krieg und die Verarmung zurück -, stieg er danach wieder stark an.

Politisch allzu korrekt. Die Verbindung mit einem verbrecherischen Regime hatte das Wissen der deutschen Krebsforschung in Nichtwissen verwandelt. In der Paläoanthropologie hingegen findet Proctor den umgekehrten Fall, dass nämlich die Fixierung auf eine "gute“ Ideologie zu Scheuklappen für die Forschung wurde. Die Erfahrung des Holocausts hatte nach 1945 quasi jegliche Form des Rassendenkens diskreditiert. Wir sind alle von einem Stamm. Gut und richtig so, oder? Freilich, nur wurde diese unilineare Sicht auch auf die Vorgeschiche des Menschen übertragen. Wer in den Fünfziger- und Sechzigerjahren den Neandertaler auf einen ausgestorbenen Seitenzweig verbannen wollte, wurde schnell der Diskriminierung geziehen. Dass die Stammesgeschichte der Hominiden ungleich komplizierter war, eher einem Stammbusch als einem Stammbaum entspricht und mehrere Arten von Hominiden gleichzeitig die Savannen Afrikas durchstreiften und keineswegs klar ist, welche Linie zu uns führt, ist erst in den letzten zwei, drei Jahrzehnten deutlich geworden. Auch eine noch so sympathische Ideologie kann also zu blinden Flecken führen.

Aufgewachsen ist Proctor in Texas: "Viele Verwandte mütterlicherseits waren im Klu-Klux-Klan, väterlicherseits waren es liberale Baptisten, die etwa in China missionierten. Es gab ständig Streitigkeiten wegen der, Rasse‘, mein Vater wurde als, Niggerlover‘ beschimpft.“ So erklärt sich sein Interesse auch für diese Fragen.

Acheuléen und Achate. In einem weiteren Forschungsprojekt, ebenfalls aus der Paläoanthropologie, untersucht Proctor eine andere Spielart der Produktion von Nichtwissen. Dabei geht es um die millionenfach überlieferten steinernen Faustkeile aus der Periode des Acheuléen (vor 1,5 Mio. Jahren bis 100.000 Jahren). Im 19. Jahrhundert war man sich sicher, was es mit diesen Handäxten auf sich habe. Je mehr man darüber forscht, desto rätselhafter werden diese Werkzeuge. Wie ist es möglich, dass sie über einen derart langen Zeitraum quasi unverändert blieben, zwischen Spanien und China verwendet wurden und noch dazu von verschiedenen Spezies von Vormenschen? Und vor allem: Wozu wurden sie gebraucht? Zum Teil völlig divergierende Theorien - "Killerfrisbee“ für die Jagd, "Schweizermesser der Steinzeit“, Balzgeschenk oder bloßer Abfall -, füllen Bände, ein Konsens wird immer schwerer vorstellbar.

Das sind freilich noch nicht alle agnotologischen Projekte Proctors. Sein Haushalt etwa quillt über vor Achaten (etwa 10.000), vielfältig gefärbten und gezeichneten Quarzen. Warum wurden Diamanten zum Inbegriff für Kostbarkeit, während die, wie Proctor findet, viel hübscheren Achate, auf der Edelsteinhierarchie ganz unten rangieren? Auch von Geologen werden sie mit Desinteresse gestraft, während Liebhaber darüber viel besser Bescheid wissen. Das Verschwinden des volkstümlichen Wissens - ein bekannteres Beispiel wären Heilpflanzen - ist noch so eine Spielart der Produktion von Nichtwissen.

Und schließlich schreibt Proctor auch noch an einem Buch über die Geschichte der Evolutionstheorie - im Heimatland der Kreationisten fast so etwas wie ein Pflichtprogramm für einen Agnotologen. Auch Glaube kann zu Nichtwissen führen. Wie erfolgreich ist er dabei, sein Programm der Nichtwissensforschung zu etablieren? Das Thema als solches schlägt ein, gerade angesichts der großen Unzufriedenheit mit Präsident Bush. "Der Irakkrieg war ja auf Ignoranz und auf bewusste Irreführung aufgebaut, das dämmert den Menschen jetzt.“

Im Frühjahr 2008 gibt er gemeinsam mit seiner Frau Londa Schiebinger, ebenfalls eine renommierte Wissenschaftshistorikerin, bei Stanford University Press den Sammelband "Agnotology: The Making and Unmaking Ignorance“ heraus. Einen vieldiskutierten Wikipedia- Eintrag zu dem Kunstwort gebe es auch schon, freut sich Proctor. Dennoch glaubt er - ist dies nun Selbstkritik oder Bescheidenheit? -, keine gute Arbeit bei der Etablierung des neuen Forschungsfeldes geleistet zu haben. "Ich bin doch mehr Gelehrter als Vermarkter.“

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