Man fragt einfach, warum
vom 21.11.2007
Von Aal bis Wasser reichen die 42 Einträge im vergnüglich-subtilen "Lexikon des Unwissens“ von Kathrin Passig und Aleks Scholz. Im Interview erzählen sie, wie sie die Wissenslücken aufspürten und warum statt des Eintrags "Hawaii“ vielleicht Madagaskar besser gewesen wäre.
heureka!: Wie kamen Sie eigentlich auf die Idee, ein Lexikon ausgerechnet über das Unwissen zu schreiben?
Kathrin Passig: Das Unwissen ist bisher zu kurz gekommen auf der Welt. Man widmet ihm hin und wieder mal eine Fußnote oder einen Zeitungsartikel, aber viel zu selten auch mal ein ganzes Buch. Die Idee hatte ich vor einigen Jahren, ich glaube nach der Lektüre von "Pest, Not und schwere Plagen“ von Manfred Vasold, einem Buch, in dem zu meiner Überraschung steht, dass der Pesterreger gar nicht so dingfest gemacht ist, wie ich dachte, und dass man überhaupt gar nicht so genau weiß, was die Pest für eine Krankheit war. Nach der Lektüre unseres Lexikons steht man nicht, wie bei den meisten Sachbüchern, mit der Illusion da, etwas zu wissen, sondern verfügt stattdessen über solides, zuverlässiges Unwissen.
Wie kam es zur Auswahl der 42 Begriffe, darunter "Stern von Bethlehem“ und "Trinkgeld“?
Passig:Wir hatten eine lange Liste möglicher Themen, aus der wir nach und nach das herausgegriffen haben, was uns gerade am interessantesten erschien. Irgendwann war dann das Buch voll und der Abgabetermin da.
Hat es Sie überrascht, wie wenig die Wissenschaft über scheinbar einfachste Dinge wie das Schlafen, die Erkältung oder das Riechen weiß?
Aleks Scholz: Es hätte mich enttäuscht, wenn sich bei der Recherche herausgestellt hätte, dass es solche scheinbar einfachen, dann aber doch ungeklärten Dinge nicht gibt, schon deshalb, weil wir dann das ganze Buch mit langweiligem Zeug wie Quarks und Neutronensternen hätten vollschreiben müssen. Heute, also nach der Recherche, kommt es mir eher überraschend vor, wie viel man über so unglaublich komplexe Dinge wie das Riechen oder den Schlaf doch schon herausgefunden hat.
Ihr Buch beginnt mit einem Beitrag, der eher zufällig ausgewählt war, nämlich den über den Aal. Könnte man daraus schließen, dass sich Wissenslücken bei so gut wie allem auftun, wenn man nur entsprechend nachbohrt?
Scholz: Es gibt in naturwissenschaftlichen Studiengängen eine simple Prüfungstechnik: Jedes Mal, wenn der Prüfling eine richtige Antwort gibt, fragt man ihn einfach: "Warum?“ Mit zwei, drei gezielten Warum- Fragen ist man in der Regel am Rande des Wissens des Studenten, und noch ein einziges Warum mehr bringt einen an den Rande des Wissens der Menschheit. Die Antwort ist also: Ja, wer ein wenig hartnäckig ist, findet überall Unwissen.
Wie ging es Ihnen damit, sich in die zum Teil doch recht komplizierte Materie einzuarbeiten und der Forschung nachzuweisen, dass sie was nicht weiß?
Passig: Wir weisen der Forschung ja gar nicht nach, dass sie was nicht weiß, sondern versuchen nur, das in der Forschung gewonnene Unwissen auch Nichtwissenschaftlern zu vermitteln. Das ist manchmal aus der Außenperspektive leichter, als wenn man mittendrin steckt. Auch individuelle Unwissenheit kann ja - in seltenen Fällen - ganz hilfreich sein. Und um zu verhindern, dass wir aus lauter individueller Unwissenheit nur Unfug ins Buch schreiben, haben wir alle Beiträge, zu denen wir deutschsprachige Experten finden konnten, gegenlesen lassen.
Scholz: Wissenschaftler zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie die richtigen Fragen stellen - also genau wissen, wo das Unwissen steckt. Dabei ist es ein wenig störend, dass sie, sobald sie Unwissen gefunden haben, sofort mit einer Hypothese oder meist gleich mehreren Hypothesen ankommen, um es zu erklären, und nicht erst mal mehrere Jahre Publikationen schreiben, die "Problem XXX weiterhin ein Rätsel“ heißen. Das macht es uns bei der Recherche etwas schwer, das Unwissen zu finden, aber, hey, für Hypothesen werden die Wissenschaftler schließlich bezahlt.
Inwiefern hat das Internet solche Recherchen für Nichtforscher verändert? Wären Recherchen wie die Ihren vor zehn Jahren auch möglich gewesen?
Passig: Vor zehn Jahren gab es ja immerhin schon das Internet, und man konnte sogar schon englischsprachige Bücher über Amazon bestellen anstatt bei irgendwelchen Offline-Halsabschneiderfirmen, bei denen man zum doppelten Originalpreis monatelang auf das bestellte Buch warten durfte. Etwas schwieriger als heute wäre es trotzdem gewesen, wahrscheinlich hätten wir statt einem Jahr drei Jahre gebraucht, um das Buch zu schreiben. Vor zwanzig Jahren, ganz ohne Internet, hätte es zehn Jahre gedauert, und vor fünfzig Jahren wahrscheinlich hundert.
Von welchem der 42 ungelösten Probleme würden Sie sich selbst am dringendsten eine Klärung erhoffen?
Wie wird Ihr Lexikon des Unwissens in fünfzig Jahren aussehen?
Passig: Aussehen wird es vermutlich ein bisschen vergilbter als heute. Vielleicht sind in fünfzig Jahren nicht alle Fragen im Buch gelöst, aber man kann unbesorgt prophezeien, dass alle Kapitel überarbeitungsbedürftig sein werden. Aber das ist nicht mein Problem, darum muss sich dann der 82-jährige Aleks Scholz kümmern.
Sie haben in Ihrem Buch, das sich prächtig verkauft, die E-Mail-Adresse korrektur@lexikondes unwissens.de für Fehlermeldungen angegeben. Wie viel Leserpost ist denn bislang eingegangen?
Passig: Gar nicht so viel, wie ich in manchen Albträumen vor dem Erscheinen des Buchs dachte. Bisher haben uns genau zehn Mails mit Korrekturen erreicht.
Kamen die eher von Wissenschaftlern oder von "Amateuren“?
Scholz: Von einer Ausnahme abgesehen stammen alle bisherigen Korrekturen von Amateuren, jedenfalls haben sich die Kommentatoren nicht als Fachleute zu erkennen gegeben. Ich vermute jetzt mal einfach, es liegt daran, dass man kein Profi sein muss, um zu bemerken, dass Wasser bei vier Grad Celsius nicht die geringste, sondern die höchste Dichte hat, unser peinlichster Fehler bisher.
Sind durch die Zuschriften in der Zwischenzeit auch schon Einträge für eine Neuauflage obsolet geworden?
Scholz: Ungefähr eine Woche nach Erscheinen des Lexikons traf ich in Cambridge auf einer Grillparty zufällig einen Geologen, der sich mit der Entstehung Hawaiis auskannte und mir auf Nachfragen leider mitteilte, dass hier weniger Unwissen besteht, als wir im Buch behaupten. Die Plume-Hypothese zur Entstehung der hawaiianischen Inselkette - kurz: ein langer Schlot, der tief in den Erdmantel reicht, transportiert Lava nach oben - wird offenbar nur von einer Handvoll Außenseitern angezweifelt und wäre nach unseren harten Kriterien damit zunächst mal kein Unwissen. Allerdings publizieren diese Plume-Gegner in angesehenen Journals, und ihnen wird nur selten öffentlich widersprochen; wir sind daher nicht die Einzigen, die beim Recherchieren zu dem Eindruck gekommen sind, es gäbe hier allgemein akzeptiertes Unwissen. Trotzdem: Die Entstehung von Hawaii sollte als Erstes aus dem Buch gestrichen werden. Vielleicht ist stattdessen ja die Entstehung von Madagaskar unklar.
Unter der E-Mail-Adresse vorschlag@lexikondes unwissens.de bitten Sie um neue Unwissensthemen für eine etwaige Neuauflage des Lexikons. Schon Post?
Scholz: Bisher leider deutlich weniger als bei der Korrekturadresse, obwohl es ganz sicher mehr neues Unwissen als Fehler im Buch gibt, behaupte ich jetzt mal. Einige interessante Vorschläge gab es aber doch. Zum Beispiel ist möglicherweise unklar, warum Tiere an Schrotschüssen sterben.
Geht sich ein neues Lexikon mit 42 neuen offenen Problemen schon aus?
Passig: Wir haben eine Liste, auf der ungefähr 200 schöne, neue offene Fragen stehen, und sammeln vorsichtshalber auch noch weiter. Andererseits haben wir diverse andere Buchpläne, die jetzt erst mal dran sind. Aber wenn der Verlag kommt und uns ein, zwei goldene Badewannen bietet, sind wir natürlich dabei. Na gut, sagen wir: goldene Zahnputzbecher.
ZUR PERSON
Kathrin Passig (37)
ist Geschäftsführerin der "Zentralen Intelligenz Agentur“ in Berlin und Redakteurin des Weblogs "Riesenmaschine“. 2006 gewann sie den Bachmann- Preis.
Aleks Scholz (32)
ist Astronom und forscht an der Universität St. Andrews in Schottland. Er ist daneben ebenfalls Redakteur der "Riesenmaschine“.
Kathrin Passig und Aleks Scholz: Lexikon des Unwissens. Worauf es bisher keine Antwort gibt. Rowohlt Berlin, 255 S., € 17,40