Augen an den Beinen

Robert Czepel
vom 08.10.2008

Das Auge war in der Biologie immer wieder Auslöser für heftige Grundsatzdebatten. Ist das Urauge nun einmal oder viele Male entstanden? Und die Frage, ob es für die Entstehung von etwas so Komplexem nicht eines Schöpfers bedürfe, ist ohnehin ein Dauerbrenner

Science, not fiction. Das Szenario schien aus einem Horrorfilm zu stammen. Genetisch manipulierten Taufliegen waren an Beinen und Flügeln, ja selbst an den Antennen zusätzliche Augen gewachsen. Ort der Handlung war aber nicht Hollywood, sondern ein Labor der Universität Basel. Dort hatte Mitte der 1990er-Jahre der Genetiker Walter Gehring einen Hauptschalter im Erbgut der Fruchtfliege namens "eyeless" entdeckt, der mehr als 2500 andere Gene in Form einer Kettenreaktion aktiviert.

Viele Biologen waren überrascht, dass diese Kaskade zur Bildung kompletter Insektenaugen führte. Bis dahin hatte niemand gedacht, dass ein einzelnes Gen für den Start eines so komplexen Vorgangs verantwortlich sein könnte. Gehring und seine Mitarbeiter aktivierten "eyeless" auch außerhalb des Kopfes der Taufliegenembryonen und erzielten beeindruckend monströse Resultate.

Ob Taufliegen mit den Augen an Beinen, Flügeln und Antennen tatsächlich sehen, ist noch nicht klar, denn die Nervenverbindungen der Zusatzaugen wachsen wegen Platzmangels ins Riechhirn. "Es wäre denkbar, dass die Fliegen Licht riechen und nicht sehen", sagt Gehring im Gespräch mit heureka!.

Das Urauge? So weit ist die Angelegenheit zwar spektakulär, aber nicht allzu umstritten. Für Zündstoff sorgte indes die Entdeckung, dass es gleiche (oder nahe verwandte) Gene auch bei der Maus, beim Menschen, ja sogar bei Tintenfischen, Strudelwürmern, Kammmuscheln und vielen anderen Spezies gibt, was auf ein gemeinsames stammesgeschichtliches Erbe hindeutete. Gehring machte die Probe aufs Exempel und wiederholte den Monsterversuch bei Fruchtfliegen, verwendete diesmal allerdings das "mäusische" Gen - und siehe da: auch diesmal wuchsen den Fliegen Augen an Beinen und Antennen. Gehring zog daraus den Schluss: Wer auch immer jenes Wesen war, das "eyeless" zuerst im Genom trug, war der Besitzer des Urauges, dem letztlich alle sehenden Tiere der Gegenwart ihr Augenlicht verdanken.

Das ist die These vom "monophyletischen", sprich: einmal erfolgten Ursprung des Sehsinns in der Naturgeschichte. Sogleich regte sich Widerstand im Lager der Entwicklungs- und Evolutionsbiologen. Sie gruben eine Arbeit aus, die der Harvard-Biologe Ernst Mayr mit seinem österreichischen Kollegen Luitfried Salvini-Plawen im Jahr 1977 veröffentlicht hatte. Darin kamen die beiden aufgrund morphologischer Vergleiche zu dem Schluss, dass Augen im Tierreich nicht einmal, sondern 40- bis 60-mal unabhängig entstanden seien.

Den Kompromiss im Blick. Der augenfällige Widerspruch zwischen diesen beiden Positionen kann zumindest teilweise aufgelöst werden, wenn man die unterschiedliche Verwendung des Begriffs "Auge" berücksichtigt. Morphologisch orientierte Biologen verstehen darunter in der Regel mehr oder weniger komplexe Organe, seien es nun Becher-, Insekten- oder Linsenaugen. Für Genetiker ist hingegen schon das ein Auge, was durch den "eyeless"-Schalter gebildet wird.

Insofern haben die Morphologen schon Recht, wenn sie betonen, der gemeinsame Vorfahre von Mensch, Maus und Muschel müsse augenlos gewesen sein. Gehring und seine Mitstreiter punkten hingegen mit dem Hinweis, dass die offenbar allgemeine Verbreitung von "eyeless" auf ein gemeinsames Erbe hindeute.

Mittlerweile haben sich die Positionen ein wenig angenähert. Salvini-Plawen macht im Gespräch mit heureka! einen Kompromissvorschlag: "Die genetische Basis für die Entstehung des Auges dürfte tatsächlich einen einzigen Ursprung haben. Allerdings haben in den verschiedenen Tiergruppen erst die Umweltbedingungen entschieden, ob diese Möglichkeit auch wirklich genutzt wurde. Alle Augentypen, die wir heute kennen, sind späteren Datums."

Und Gehring akzeptiert als Urauge auch einen simplen Pigmentfleck mit einer Rezeptorzelle, die, wie er mittlerweile zeigen konnte, ebenfalls unter dem Einfluss des "Masterregulators" steht. Womit sich der Disput auf eine Frage reduziert: Besaß der erste Träger von "eyeless" bereits einen Fotorezeptor - oder hatte das Gen ursprünglich eine andere Funktion? Das wäre noch zu klären.

Augenauswischerei. Keinerlei Annäherung gibt es bei der Kontroverse zwischen Neodarwinisten und den Vertretern des "Intelligent Design" (kurz: ID). Zu Letzteren gehört Wolf-Ekkehard Lönnig, ehemals am Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung tätig und nun im Ruhestand. Mit seinem ehemaligen Arbeitgeber dürfte es das eine oder andere Zerwürfnis gegeben haben: "Ich spreche als Privatperson, nicht als Vertreter einer Institution." Und: "Intelligent Design ist etwas anderes als Kreationismus. Wir sind nicht an die Bibel gebunden, sondern stellen uns nur die Frage: Sind Mutation und Selektion wirklich ausreichend, um die Phänomene des Lebens zu erklären? Oder steckt nicht vielmehr eine Intelligenz dahinter?"

Nicht weiter überraschend kommen die Vertreter des ID zu der Auffassung, dass Letzteres der Fall sei. Wobei sie meist offenlassen, was unter dieser "Intelligenz" zu verstehen sei. Lönnig ist da eher eine ehrliche Ausnahme. Er bekennt: "Für mich ist das Gott."

Pikanterweise beziehen sich gerade die Anti-Darwinisten in ihren Schriften häufig auf Darwin. Besonders gerne zitiert wird ein Satz aus der "Entstehung der Arten". "Anzunehmen, das Auge (...) sei durch natürliche Zuchtwahl entstanden", schrieb Darwin 1859, "scheint, das gebe ich offen zu, höchst absurd." Das zeigt zwar, dass Darwin mögliche Einwände gegenüber seiner Theorie immer ernst genommen hat, aber das ID-Konzept macht es nicht wirklich plausibler.

Warum sollen das Auge und der ganze Rest eigentlich nicht auf natürliche Weise entstanden sein? "Dafür braucht es eine Menge Glauben", sagt Lönnig, "denn die Teile des Auges müssen harmonisch ineinanderwirken um das Funktionieren zu gewährleisten. Und das bringen Mutationen nicht zustande. Sie haben meist negative Wirkung."

Denkfaulheit? Der Genetiker Steve Jones vom University College London lässt an derlei Einwänden kein gutes Haar. Er sieht darin eine Mischung aus "Denkfaulheit und Arroganz", die man auf folgende Formel reduzieren könne: "Ich bin ein kluger Kerl und kann nicht verstehen, wie das alles durch Evolution entstehen konnte. Also konnte es nicht durch Evolution entstehen."

Nicht dass die zwei Gruppen bislang zu wenig Argumente ausgetauscht hätten.

Im Fachjournal Biology & Philosophy lieferten sie sich epische Debatten, auf öffentlichen Diskussionsveranstaltungen redeten sie einander ins Gewissen, und natürlich erschienen unzählige Beiträge in Buchform. "Evolutionspapst" Richard Dawkins etwa hat der Augenfrage in "Der blinde Uhrmacher" ein ganzes Kapitel gewidmet, worauf Wolf-Ekkehard Lönnig wiederum mit einer 130 Seiten starken Antwort auf seiner Website reagiert hat.

Die Debatte bewegt sich zwar - aber nur im Kreis. Wer die einschlägige Literatur durchblättert, bemerkt schnell, dass sich die Argumente in leicht variierter Form regelmäßig wiederholen. Schlichtweg deswegen, weil Evolutionisten und ID-Leute von völlig unterschiedlichen Grundannahmen ausgehen, die eben nicht zur Deckung zu bringen sind. Erstere argumentieren stramm naturwissenschaftlich, Letztere sehnen sich im Grunde nach einer Zeit, in der noch übernatürliche Erklärungen erlaubt waren. Dass es angesichts dieser Ausgangslage zwischen den Streitparteien jemals einen Konsens geben wird, scheint wohl ausgeschlossen. Oder mit Richard Rorty gesprochen: Manchmal kann man eben nicht mehr überzeugen, sondern höchstens überreden.

Literatur

Literatur, Quellen usw.:

Walter Gehring

www.biozentrum.unibas.ch/gehring/index.html

Wolf-Ekkehard Lönnig

www.weloennig.de/internetlibrary.html

Intelligent Design Creationism and Its Critics.

Philosophical, Theological, and Scientific Perspectives. Herausgegeben von Robert T. Pennock

Was Gehrings Augenmultiplikation für die Evolution bedeuten: Die Debatte in Science, Bd. 272, S. 467

www.sciencemag.org/cgi/content/full/272/5261/467b

Funktionstüchtige Zusatzaugen

PNAS, Bd. 105, S. 8968

www.pnas.org/content/105/26/8968.abstract

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