Anders abhängig
Sie fangen später an, zeigen aber früher Symptome. Frauen süchteln anders als Männer.
Text: Verena Ahne
Mädchen scheren sich nichts mehr. Im Länderdurchschnitt rauchen sie gleich viel, in Österreich deutlich mehr als die Burschen, und ihren Angaben zufolge haben sie auch gleich viel Erfahrung mit Alkohol (etwas weniger beim rauschhaften Trinken). Dies zeigt die jüngste ESPAD-Studie, die seit 1997 regelmäßig durchgeführte, europaweite Umfrage unter 15- bis 16-jährigen Schülern und Schülerinnen zum Thema Alkohol und andere Drogen.
Läutet diese Entwicklung eine Trendumkehr in einem bisher von Männern dominierten Feld ein? Denn, egal ob bei illegalen Drogen, Alkohol, Aufputschmitteln oder Cannabis – in den meisten Bereichen sind bis heute mehr Männer suchtgefährdet oder suchtkrank als Frauen, zum Teil um ein Vielfaches.
Große Geschlechterunterschiede
Kommt es hier nun zu einer unerfreulichen Form der Gleichberechtigung? Irmgard Vogt sieht davon noch nichts. „Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern bei Suchtkrankheiten sind noch immer erstaunlich groß“, so die Suchtexpertin von der Fachhochschule Frankfurt am Main, „auch wenn man bei den ganz Jungen Annäherungen sieht. 15 Jahre: Das ist die Zeit der Experimentierlust und des Aufbegehrens! Aber ein paar Jahre später geht die Schere schon wieder weit auseinander.“
Gesellschaftliche Vorstellungen über „männliche“ und „weibliche“ Eigenschaften prägen laut Vogt junge Menschen stärker, als oft angenommen wird – und differenzieren ihr Verhalten. Zum Beispiel würden die Burschen mit Alkohol ihre Männlichkeit inszenieren. „Sie sind immer im Wettstreit, wer der beste Trinker ist.“ Mädchen können das nicht: denn die Muster von Weiblichkeit werden durch die Wirkung von Alkohol ja gerade untergraben.
Umkippen ist eindeutig männlich konnotiert. Das wissen die jungen Frauen und schützen sich davor. Etwa indem sie sich nur unter Freunden betrinken, die auf sie aufpassen. Oder indem sie insgesamt weniger und auch leichtere Getränke zu sich nehmen.
Noch größer sind die Unterschiede in der Bereitschaft, sich auf illegale Substanzen einzulassen. „Heroin und Kokain sind nicht wirklich Frauensache“, meint Vogt. Wobei noch nicht geklärt sei, ob das an den Drogen selbst liegt oder beispielsweise an den damit verbundenen Strafen. Generell ist zu beobachten, dass Frauen später mit dem Missbrauch von Substanzen beginnen.
Sucht bei Frauen früher sichtbar
Gleichzeitig schreitet eine Suchterkrankung bei Frauen schneller voran: Sie haben früher körperliche Symptome als Männer, vor allem bei Alkoholmissbrauch. Das liegt am weiblichen Körperbau: Zum einen haben Frauen im Durchschnitt kleinere Organe und ein geringeres Gewicht, sodass die gleiche Menge eines Suchtmittels stärkere Wirkung zeigt als bei Männern.
Dazu kommt ein höherer Anteil an Fettgewebe, was sich deshalb auswirkt, weil in Fett schädliche Substanzen länger gespeichert werden. Und schließlich bewirken noch andere hormonelle Einflüsse, dass die Substanzen anders wirken und abgebaut werden als bei Männern. Alles zusammen führt frühzeitiger zu Schäden, vor allem an den Organen.
Wieso gibt es dann nicht mehr suchtkranke und an den Folgen ihrer Sucht leidende Frauen als Männer? „Wir verstehen noch sehr wenig davon, warum jemand süchtig wird – und so unendlich viele Menschen nicht“, erklärt Vogt.
Aber süchteln wirklich deutlich mehr Männer als Frauen? Gabriele Fischer, Leiterin der Drogenambulanz, Suchtforschung und Suchttherapie an der MedUni Wien, betont die hohe Dunkelziffer: „Die Frequenz der Zuweisungen abhängiger Frauen an spezialisierte Einrichtungen ist sehr niedrig.“ Sonst seien es die Frauen, die sich mehr und früher um ihre Gesundheit kümmern. Nicht so bei Suchtkranken: „Sie sind die einzige Frauengruppe in der Medizin, die eine schlechtere Prognose hat als Männer mit der gleichen Krankheit: Sie kommen seltener und später in Behandlung und brechen öfter wieder ab“, so Fischer.
Allerdings gehen die Ansichten hierzu in der Forschung auseinander: Andere Quellen berichten nämlich von einem früheren Behandlungseintritt und vergleichbaren Erfolgsraten. So zitiert die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht eine Untersuchung mit Zahlen aus London, Amsterdam und Rom, die zeigt, dass opioidabhängige Frauen durchschnittlich eineinhalb bis zwei Jahre früher zur Therapie kommen als Männer.
Die Gründe hierfür seien unklar: Möglicherweise entwickelten Frauen früher schwere Krankheitssymptome, hätten mehr Druck aus ihrer Umgebung oder es würden andere Mechanismen wirksam, so der Bericht „Gender differences in development of drug-related problems“ etwas schwammig.
Warum Frauen abhängig werden
Unbestreitbar ist freilich, dass weibliche Sucht gesellschaftlich stärker stigmatisiert wird. Das ist selbst in der Therapie oft unterschwellig spürbar, weiß die Wiener Suchtexpertin Fischer. Es stellt für Frauen eine besonders große Hürde dar, sich in Behandlung zu begeben. Hinzu kommt die Angst von Müttern, die Erziehungsberechtigung für ihre Kinder zu verlieren.
Kinder spielen eine vielfältige Rolle im Suchtgeschehen: Für manche Frauen ist eine Schwangerschaft eine starke Motivation, einen Weg aus der Sucht zu suchen. „Mit ihnen kann man gut arbeiten“, weiß Fischer. Voraussetzung ist freilich, dass früh genug Kontakt hergestellt wird – was aber oft genug nicht der Fall ist. „Viele schwer suchtkranke Frauen haben keine Zeit, in ein Rehab-Zentrum zu gehen, weil sie Kinder oder andere Verwandte zu betreuen haben.“
Nach wie vor hängt der Großteil solcher Verantwortung an Frauen – und wird damit nicht selten erst zum Auslöser einer Suchterkrankung. Der Mehrfachbelastung Job-Haushalt-Familie halten viele nicht stand: Sie zerbrechen am Ideal der „Powerfrau“, die in allen Bereichen stets souverän und erfolgreich agieren soll.
„Frauenspezifische Suchtursachen sind hauptsächlich strukturell bedingt“, ist denn auch die auf Gender-Studies spezialisierte Sozialpsychologin Sabine Scheffler von der Fachhochschule Köln überzeugt. Die Diskriminierung als Frau, die Nichtanerkennung oder Herabwürdigung der geleisteten Arbeit, der gefühlte Druck, einem Ideal entsprechen zu müssen, und ein niedriges Selbstwertgefühl – all dies begünstigt die Entwicklung einer Sucht.
In gemischten Therapiegruppen, in denen Männer fast immer in der Überzahl sind, wiederholen sich für Frauen oft genau diese Erfahrungen – was die Chancen auf einen erfolgreichen Ausstieg beeinträchtige, so Scheffler.
„Zwischen 50 und 70 Prozent aller von illegalen Drogen abhängigen Frauen“, so Irmgard Vogt, „wurden in ihrer Jugend missbraucht. Beim Alkohol sind es bis zu 20 Prozent.“ Gabriele Fischer hält diese Zahlen hingegen für zu hoch: „Es gibt hier keine systematischen Studien – in die müssten ja auch normale Haushalte aufgenommen werden, um allgemein gültige Ergebnisse zu erhalten.“
„Verarbeitung“ von Missbrauch
Der Zusammenhang ist aber in jedem Fall gegeben: Sexuelle Übergriffe in Kindheit und Jugend, nicht selten auch in der Gegenwart sowie andere traumatische Erfahrungen sind die stärksten Risikofaktoren für die Entwicklung einer Suchtkrankheit.
Nur ein Beispiel: In einer Fragebogenstudie unter 470 suchtkranken Frauen an einer deutschen Fachklinik (Haus Kraichtalblick) – der Großteil von ihnen alkoholkrank – gab ein Viertel an, in der Kindheit missbraucht worden zu sein, im Vergleich zu zehn Prozent in der nicht suchtkranken Kontrollgruppe mit 181 Frauen.
Traumatische Ereignisse mit Drogen auslöschen oder erträglich machen zu wollen, ergibt laut Vogt von den körperlichen Abläufen her dann gewissermaßen „Sinn“: „Misshandlungserfahrungen manifestieren sich im Gehirn, das mit einem dauerhaft stark erhöhten Stresslevel reagiert. Und Drogen wie Heroin wirken dämpfend – sie betäuben das Leid.“
Um sich aus der Opferrolle befreien zu können, brauchen diese Frauen sensible Angebote in einem geschützten Rahmen. Etwa indem „Frauen – die oftmals männliche Gewalt und sexuellen Missbrauch erfahren haben – ein ‚männerfreier Raum‘ angeboten werden kann“, schreiben Sabine Haas und Uta Enders-Dragässer in ihrem Bericht über das EU-Daphne-Projekt „Sucht als Überlebenschance für Frauen mit Gewalterfahrung?“. Ziele seien Empowerment und die – häufig abhandengekommene – Solidarität unter Frauen wieder zu fördern, so die Autorinnen.
Für weibliche Drogenabhängige gibt es mittlerweile eine ganze Reihe derartiger Angebote, auch wenn, wie Irmgard Vogt beklagt, vergleichende Studien über die Wirksamkeit der Methoden ausstehen. In anderen problematischen Bereichen wie der Alkoholkrankheit fehlen spezielle Programme fast völlig. Besonders wenig Aufmerksamkeit gibt es für das Frauensucht-Thema schlechthin: die Abhängigkeit von Medikamenten.
Mutters kleine Helfer
Als in den 1960er-Jahren Valium auf den Markt kam, fand es nicht nur unter Kranken schnell reißenden Absatz. Die Rolling Stones widmeten dem Benzodiazepin-Tranquilizer ihren Song „Mother’s Little Helper“: den kleinen gelben Pillen, die jeder Mutter, obwohl nicht wirklich krank, durch anstrengende Tage und unruhige Nächte helfen.
An der Brisanz des Textes hat sich bis heute wenig geändert. Eine Studie der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) vermeldete 2006 bis zu 1,9 Millionen Betroffene (ähnlich viele Menschen gelten als alkoholabhängig) – Tendenz stetig steigend, Dunkelziffer hoch. Medikamentenabhängige Menschen fallen kaum negativ auf und können ihr Problem über Jahre vertuschen – sofern sie überhaupt davon wissen.
Der Einstieg in die Sucht kann früh erfolgen. Kritische Stimmen warnen bereits vor den Folgen allzu leicht zugänglicher, allzu freizügig beworbener Medikamente für jede Lebenslage: häufig Schmerzmittel gegen Regelbeschwerden und Kopfweh bereits im Schulalter, Ritalin für unruhige Kinder (das dann vom Rest der Familie zur Leistungssteigerung genommen wird), ein Beruhigungsmittel vor der Prüfung, ein Aufputschmittel für einen langen Tag, Schlafmittel gegen durchwachte Nächte. Bis zu acht Prozent der rund 50.000 auf dem Markt befindlichen Arzneien können stark abhängig zu machen.
Obwohl der Griff in die Pillendose inzwischen in allen Gesellschaftsschichten und Altersgruppen verbreitet ist, betrifft der problematische Medikamentenkonsum vor allem ältere Frauen, die rund zwei Drittel der Medikamentenabhängigen ausmachen. Hier wird die weibliche Neigung, öfter ärztliche Hilfe zu suchen, zum Bumerang: Für Beschwerden wie chronische Schmerzzustände, Nervosität, Angststörungen oder Schlafprobleme – meist infolge einer psychischen Belastung wie der Loslösung der Kinder, einem Todesfall (Eltern, Lebenspartner) oder der Pensionierung – verschreiben ihnen willfährige oder gedankenlose Ärzte nur allzu gern ein beruhigendes Pillchen.
Süchtig nach Tranquilizern
Allen voran: Benzodiazepine. 80 Prozent der Medikamentenabhängigen im deutschsprachigen Raum sind süchtig nach Tranquilizern. „Die Menschen kriegen das oft gar nicht mit“, ereifert sich Vogt. Nach etwa einem halben Jahr haben ein Viertel der „Benzo“-Schluckenden eine Abhängigkeit entwickelt – mit Entzugserscheinungen, die so stark sind, dass sie alleine kaum bewältigt werden können.
Ein Problem, das sich in vielerlei Hinsicht verschärfen wird: Immer mehr Menschen werden immer älter. An alte Menschen, vor allem in Pflegeeinrichtungen, werden besonders großzügig Tranquilizer verteilt. Für alternative Therapien etwa bei Schmerzen oder psychischen Problemen gibt es immer weniger Geld.
Und: Männer schließen auf! „Im Landesdurchschnitt führen noch die Frauen beim Medikamentenmissbrauch“, so Fischer, „doch in den Städten liegen Männer bereits gleichauf.“ Wahrscheinlich müssen sie erst gleichziehen, bevor auch diese Sucht stärker ins Blickfeld rückt. Das Thema Sucht bedarf einer gendergerechten Sicht- und Herangehensweise. Und noch viel mehr Forschung.
Links und Literatur:
ESPAD-Studie: www.espad.org
Studie: Gender differences in development of drug-related problems http://issues06.emcdda.europa.eu/en/page015-en.html
Zur Person
Verena Ahne ist Ethnologin und lebt und arbeitet als freie Wissenschafts- und Medizinjournalistin in Wien.