Haidingers Hort der Wissenschaft

Narren im Turm

Martin Haidinger
vom 08.04.2015

Stufe um Stufe steigt er hinauf. Gänzlich auf seine großen Erwartungen im kleinen Oktogon jenseits des obersten, des fünften Stockwerks konzentriert, bemerkt Joseph längst nicht mehr den infernalischen Gestank der angeketteten Menschenleiber, die den Turm bevölkern. Dumpf tönt aus den Zellen das Geschrei der Insassen. Gott allein weiß, wie sehr Kaiser Joseph II. diese Menschen liebt! Ihnen hat er 1784 den Narrenturm als sein Meisterstück auf dem Gelände des Wiener Allgemeinen Krankenhauses bauen lassen. Ohne Wasser im Haus. Dafür mit Blitzableiter.

Joseph hat das Oktogon-Türmchen erreicht. Da sieht er plötzlich, dass er Gesellschaft hat. "Wer bist du?", fragt er. "Mein Institut ist gleich da draußen am Uni-Campus", antwortet die Studentenvertreterin und schüttelt dem verblüfften Kaiser die Hand. "Ich weiß, dass es das Türmchen heute eigentlich gar nicht mehr gibt", sagt sie. "Aber ich bin trotzdem hergekommen, weil ich mich gerne in nicht existierenden Räumen aufhalte." Joseph glaubt zu verstehen und nickt wohlwollend.

"Ist der ganze Turm nicht ein Wunderwerk?", will er die Studentenvertreterin begeistern. "28 Zellen haben wir pro Stockwerk, denn die 28 ist die Zahl des großen Sonnenzirkels. Nach 28 Jahren fallen alle Wochentage eines Jahres wieder auf dasselbe Datum. Natürlich ist von der 28 auch der unheilbringende Mond betroffen, was für die Narren von großer Bedeutung ist. Mittels der 28 wollen wir sie kurieren. Immerhin heißt unter den 72 Engeln der Kabbala der 28.'Gott, der du die Kranken heilst'

"'tschuldigung", unterbricht die Studentenvertreterin. "Aber Mathematik ist echt nicht meine starke Seite. Ich bin mehr für Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft." Joseph staunt: "Wo ist da der Unterschied zur Mathematik? Das Oktogon am Dach ist eine Denkmaschine und symbolisiert den platonischen Luftkörper. Durch Luft und Wind entzieht man dem Ort das Miasma, und die Seele kann durch die Luft in den Kosmos steigen, hin zum Göttlichen, findet Frieden und Heilung. Sogar die Geisteskranken können an diesem wunderbaren Ort zur Gotteserkenntnis gelangen.""Moment mal", unterbricht ihn die Studentenvertreterin. "Sie erzählen mir ein bisschen zu viel von Gott und so. Was reden Sie da für okkultes Zeug? Uns haben sie immer gesagt, dass Joseph II. ein aufgeklärter Mensch war!"

Ratlos mustert Joseph sein Gegenüber. "Sind wir beide Narren? Ich am Beginn, und du am Ende des Erfassungsbogens der Aufklärung?" Er seufzt mit einem Blick gen Himmel: "Jesus Maria!"

"Widerstand." Entgegnet leise die Studentenvertreterin und sieht zu Boden.

Martin Haidinger ist Historiker, Wissenschaftsjournalist bei Ö1 und Staatspreisträger für Wissenschaftsjournalismus

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