Ein Facebook des Mittelalters
Mehr als 1.000 Jahre, 80 Kilometer Steuerlisten, Sterbeurkunden und andere Quellen, dazu tausende Monografien im Netz
vom 01.07.2015
An der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) entsteht der größte Datensatz venezianischer Dokumente. Man könnte es das Facebook des Mittelalters nennen: Das "Venice Time Machine Project"(VTMP) will die Seerepublik Venedig mehrdimensional wiederauferstehen lassen.
Gründungsvater des Projekts ist Frédéric Kaplan. Er dissertierte über Künstliche Intelligenz und hält in Lausanne einen Lehrstuhl für Digital Humanities. "Es gibt zurzeit zwei Gruppen in der akademischen Welt: Für die einen sind Digital Humanities ein transdisziplinäres Ding, das nach einer Weile wieder verschwinden wird, für die anderen ist es eine Disziplin für sich, mit eigenen Untersuchungsgegenständen und einer eigenen Methodologie." Kaplan zählt sich zu Letzteren. Die Digitalisierung ist für ihn eine Möglichkeit, verlorene Informationsdichte wiederherzustellen.
Wichtigster Partner Kaplans ist das "Archivio di Stato" in Venedig. Bei Recherchearbeiten in dem für die Öffentlichkeit unzugänglichen Archiv sei ihm 2012 die Idee zur venezianischen Zeitmaschine gekommen. Durch die Indexierung der dort befindlichen Dokumente soll ein dichtes biografisches Netzwerk entstehen - ein soziales Netzwerk der Vergangenheit: Wer war mit wem befreundet oder verfeindet, welche Stammbäume lassen sich zeichnen, wer ist von A nach B gezogen? Man könne außerdem Briefe miteinander vergleichen, indem ähnliche oder gleiche Wörter in Bezug zueinander gesetzt werden.
Das sei der wahre Wert der Dokumente: die Möglichkeit, Querverweise durch riesige Datenmengen zu ziehen. Was hier entsteht, ist ein "Big Data" der Vergangenheit. Die Digitalisierung der Quellen erfolgt mittels zweier halbautomatischer Scanner, die bis zu 1.000 Seiten in der Stunde schaffen. Außerdem wird Venedig nun in 3D abgefilmt, und zwar mittels eines elektrischen Dreirads samt Kamera. Eine einzige Person ist dafür zuständig. "Das ist ein bisschen wie das Google-Auto", sagt Frédéric Kaplan, "unser Digitalisierungsagent ist sehr stolz auf diesen Job".
So soll die Entwicklung des Stadtstaats Venedig nachvollziehbar gemacht werden. Dabei treten auch Unschärfen zutage, denn geschönt und geschummelt wurde schon damals. So habe der Maler Canaletto der englischen Touristen wegen, die gerne nach Venedig kamen, den Canal Grande immer größer gemalt, als er eigentlich gewesen sei - ebenso das Arsenal auf Stadtplänen.
Für Kaplan ist der Digitalisierungsund Vermessungsprozess selbst wichtiger als das Ergebnis. Digitale Sammlungen müssen alle fünf Jahre wiederkodiert werden, andernfalls verlieren sich die Daten. "Wir müssen uns von der Idee verabschieden, Objekte bewahren zu wollen. Wenn Objekte ausschließlich dazu sind, um aufbewahrt zu werden, sterben sie."
vtm.epfl.ch
www.archiviodistato.firenze.it
Grenzen überschreiten
Bei einer Konferenz des Internationalen Zentrums für Archivforschung ICARUS in Prag standen die Beziehungen von Archiven untereinander sowie mit Nutzern im Fokus. Mehr als 40 Redner stellten internationale Digitalisierungsprojekte vor. "Wir waren in den vergangenen Jahren vor allem damit befasst, Institutionen zusammenzubringen. Jetzt geht es darum, die Nutzer-Community ins Archiv hineinzuholen", so ICARUS-Präsident Thomas Aigner. Dazu dienen das EU-Projekt co:op mit 17 internationalen Projektpartnern und der Verein ICARUS4all.
coop-project.eu
icar-us.eu/icarus4all