Längst nicht mehr nur in fernen Dörfern
Kultur-und Sozialanthropologie hat in Österreich eine Tradition. Diese wurde auch am Royal Anthropology Institute in London gewürdigt. Als vierte Nation wurde Österreich zu einem eigenen Präsentationstag eingeladen
vom 23.11.2016
"Alles in unserem Fachgebiet ist mit österreichischer Kultur-und Sozialanthropologie verbunden", sagte der in Großbritannien lehrende Sozialanthropologe João de Pina-Cabral am Tag der Österreichischen Sozial-und Kulturanthropologie in London. "Es wird oft unterschätzt, wie sehr Österreicherinnen und Österreicher diese Disziplin geprägt haben."
Der Österreich-Tag fand am 8. November 2016 in den Räumlichkeiten der Britischen Akademie statt. Eingeladen hatte das Royal Anthropological Institute RAI. Österreich ist nach Frankreich, Norwegen und Polen das vierte Land dieser Veranstaltungsreihe, zu der Kultur-und Sozialanthropologie- Institute eingeladen werden, um ihre aktuellen Arbeiten vorzustellen.
David Shankland, Direktor des RAI, Martin Eichtinger, österreichischer Botschafter in Großbritannien, und Heinz Fassmann, Vizerektor der Universität Wien, begrüßten ein Fachpublikum, in dem unter anderen auch Fachberühmtheiten wie Marilyn Strathern saßen. Unter der Leitung von Andre Gingrich, Direktor des Instituts für Sozialanthropologie (ISA) an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, wurde das Programm präsentiert. Es zeigte die aktuellen Forschungsschwerpunkte des ISA und des Instituts für Kultur-und Sozialanthropologie (IKSA) der Uni Wien -den Studierendenzahlen nach das größte Institut dieses Faches in Europa.
Besondere Merkmale österreichischer Kulturanthropologie
Die Vorträge von Maria Six-Hohenbalken, Ayşe Çağlar, Eva-Maria Knoll, Thomas Fillitz, Peter Schweitzer und Stephan Kloos spiegelten die Vielfalt des Faches wider: von Migration und Mobilität zu Kunst und Medizin bis hin zu aktuellen Umweltthemen. Geografisch erstreckt sich das Forschungsinteresse von Eurasien über Afrika bis in den Kontinent Amerika.
Trotz des Kompliments von Pina-Cabral zog Peter Schweitzer, Vorstand des IKSA, in Zweifel, dass es einen typischen österreichischen Kultur anthropologen gibt. Denn heute organisiert sich die Wissenschaft eher in phänomen-oder regionalspezifischen Gruppen.
Er stellte exemplarisch seine drei Schwerpunkte vor: Umwelt, Technologie und Infrastruktur sowie Jäger-und Sammlergesellschaften. ISA- Direktor Andre Gingrich betonte, dass es bei aller Vielfalt der Kultur-und Sozialanthropologie (KSA) in Österreich zwei typische Merkmale gibt: das Erlernen von fremden Sprachen und die Bevorzugung der qualitativen, vergleichenden Methode - beides Voraussetzungen für lange Feldaufenthalte.
Das Fach befasst sich längst nicht mehr mit einzelnen, weit entlegenen Dörfern, sondern mit komplexen transnationalen Prozessen gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Stephan Kloos vom ISA leitet das vom europäischen Forschungsrat geförderte Projekt RATIMED. Er sprach in seinem Vortrag über die Industrialisierung traditioneller tibetischer Medizin. Tibet ist einer der regionalen Schwerpunkte der Wiener Kultur-und Sozialanthropologie-Forschung. Sie beschäftigt sich auch kritisch mit der eigenen Vergangenheit: Kollaboration, passive Akzeptanz und Widerstand im Dritten Reich. Gingrich stellte in seiner Präsentation detaillierte ethnographische Details dieser Vergangenheit vor. "Unser Fach hat sich von den Vorgängern distanziert und neue Standards für die zeitgenössische Forschung jenseits von Rassismen gesetzt."
Österreichs Sozial-und Kulturanthropologie ist auch vornational
Zwei Kulturanthropologen, Chris Hann und João de Pina-Cabral, kommentierten die Vorträge. Sie waren sich dabei einig: Österreichische Sozial-und Kulturanthropologie kann viel für sich beanspruchen. Ihre Ursprünge liegen weit vor einer nationalstaatlichen Ordnung in der Zeit der Aufklärung. Sie könne sich auch auf all jene "Altösterreicher" beziehen, die aus dem Gebiet der Habsburger Monarchie kamen, wie zum Beispiel auf Bronislaw Malinowski.