Ein virtuelles Leben nach dem Tod?

Sie heißen Augmented, Mixed und Virtual Reality. Wie wirklich werden sie für uns künftig sein?

Text: Joshua Köb
vom 22.03.2017

Stellen Sie sich vor, ihre Träume und Fantasien lassen sich verwirklichen. Körperliche, räumliche und zeitliche Grenzen gehören der Vergangenheit an. Alpine Expeditionen, Tiefseetauchen, Mondspaziergänge oder Sex mit vertauschtem Geschlecht: kein Problem. Heraus aus der physischen, hinein in die virtuelle Realität. Bisher hatten Fantasie und Traum das Monopol auf imaginäre Reisen, dank neuester Technologie werden fremde Welten künftig anders zu uns kommen.

Mit der Entdeckung dieser neuen Sphäre, einer gleichsam materialisierten Imagination, steht der Menschheit eine immense Erweiterung des Gesichtsfeldes, aber auch ein Wandel von Fantasie und Erfahrung bevor. Noch lässt sich nichts mit allen fünf Sinnen virtuell erleben. Riechen, Schmecken und Spüren kann man nur in der physischen Realität. Doch die Entwicklung spezieller Anzüge zur stärkeren Verankerung des Körpergefühls im virtuellen Raum schreitet voran. Der Gedanke, dass die Realitäten eines Tages verschmelzen werden, ist nicht mehr völlig abwegig. Utopie oder Dystopie? Das wird sich weisen. Zunächst geht es darum, einen adäquaten Umgang mit diesem neuen Phänomen zu finden.

Neue Wirklichkeitsweisen: Augmented, Mixed und Virtual Reality

Gegenwärtig herrscht ein Hype um Virtual Reality. Die großen Technologiekonzerne investieren Milliarden, etwa in mysteriöse Wundertüten wie das Start-up "Magic Leap". Zu verlockend sind die Versprechungen des Massenmarktes. Schon heute ermöglichen erschwingliche Datenbrillen den audiovisuellen Einstieg in die virtuelle Realität. Dank der Allgegenwart leistungsstarker Smartphones erfuhr mit "Pokémon Go" erstmals eine Augmented-Reality-App großen Erfolg und kollektive Beachtung. Bei Augmented Reality (AR) wie auch bei Mixed Reality (MR) wird die physische Realität um virtuelle Inhalte erweitert bzw. mit diesen gemischt. Während bei AR lediglich Inhalte ins Sichtfeld eingeblendet werden, erfolgt bei MR eine in Echtzeit ablaufende Interaktion zwischen realen und synthetischen Objekten.

Virtual Reality (VR) bezeichnet wiederum eine geschlossene digitale Welt, einen interaktiven Raum, in dem eine Immersion stattfinden kann. Für das virtuelle Erlebnis sind die Glaubwürdigkeit der Illusion und das Präsenzgefühl zentral. Sind die generierten Sinneseindrücke nicht intensiv und überzeugend, droht die VR-Krankheit: Übelkeit aufgrund der Diskrepanz zwischen den Bewegungen des Körpers und der virtuellen Umsetzung.

Präsenz steht für ganzheitliche Erfahrung und leibliche Anwesenheit im Raum. In einer gelungenen VR-Umgebung verhält sich eine Person wie in einer vergleichbaren Realsituation. "Wir sehen eine Kongruenz zwischen dem Verhalten in der VR und in der physischen Realität", sagt die Klinische Psychologin Anna Felnhofer. Von einem authentischen virtuellen Erleben mit allen Sinnen ist man zurzeit freilich noch weit entfernt. Doch sobald sich virtuelle Welten gesellschaftlich etablieren, werden auch die menschlichen Erfahrungsräume verändert. Erfahrung wird zu einem teilbaren, übertragbaren und handelbaren Gut. Eine unendliche Bibliothek an persönlichen, aber zugänglichen Erfahrungen wird sich formieren.

Felnhofer kann dieser Entwicklung einiges abgewinnen. "Ich sehe die Möglichkeit, in verschiedene Rollen, Gestalten und sogar abstrakte Formen zu schlüpfen, als große Bereicherung für den Menschen. Es fordert die herkömmlichen Grenzen unserer Körperwahrnehmung und unseres Körperschemas auf eine noch nie dagewesene Art heraus." Oswald Kothgassner, ihr Kollege an der MedUni Wien, glaubt an eine Wertsteigerung in der physischen Realität. "Es ist ja auch ein bisschen so: Wenn man über längere Zeit verreist ist und nach Hause kommt, dann nimmt man auch die eigenen vier Wände plötzlich wieder ganz anders wahr und bemerkt Facetten des Zuhauses, die im Alltag untergegangen sind."

Die Technologie kann bereichern, etwa in der Medizin oder in der Kommunikation, aber auch die Weltflucht ins virtuelle, vermeintlich konflikt-und krisenfreie Leben vorantreiben. Dieser Problematik ist sich Stephan Schlögl, Leiter des neu gegründeten Interaction Lab am Management Center Innsbruck (MCI), bewusst. "Ich sehe es auch als eine Aufgabe der Wissenschaft, diese gesellschaftspolitischen Fragen breit zu diskutieren, zu erforschen und in die Welt zu tragen. Zumal wir hier -im Gegensatz zur Industrie -frei vom Zwang der immerwährenden Innovation und Effizienzsteigerung sein sollten."

Die Virtuelle Realität im trivialen Alltag: Ist das Trump?

VR und MR werden sich nicht nur auf die Unterhaltungsindustrie beschränken, sondern auf alle Sektoren des Lebens übergreifen und schließlich in die Trivialität des Alltags einsickern. Mixed-Reality-Kochshows, virtuelle Magazine, Bücher, Museumsrundgänge, Lernumgebungen, Wohnungsbesichtigungen, Hotel-und Reisekataloge sowie Onlineshopping mit Einrichtungssimulation sind genauso zu nennen wie simulierte Problemsituationen im Arbeitsleben oder VR-Unterstützung in der operativen Medizin und im Therapiebereich. Letzteres wurde von Felnhofer und Kothgassner bereits erfolgreich zur Behandlung von Höhenangst und zum Training sozialer Kompetenzen angewandt.

Längst Normalität sind virtuelle Sichtfelderweiterungen zu Wartungszwecken und der Einsatz von VR-Technologie in der Produktentwicklung und Forschung. Unterschiedliche Möglichkeiten einer neuen Art der Filmproduktion und -rezeption werden gerade zum Beispiel von der Pornoindustrie ausgelotet. Auch im Dokumentarfilmbereich verspricht man sich eine stärkere emotionale Wirkung. Diese Neuerungen werden eine Reihe von Fragen aufwerfen - das Datenschutzproblem ist nur eine davon.

Im Bann des Virtuellen: Kann das Gehirn noch freimachen?

Wie wir spätestens seit Descartes wissen, sind unsere Sinne nicht völlig verlässlich für die Bestimmung des Realen. Nacht für Nacht wird uns im Traum eine andere Welt vorgetäuscht, und dennoch erwachen wir Morgen für Morgen in ein-und derselben. Unser Gehirn ist darin geübt, uns andere Welten vorzugaukeln. Mit dem Aufwachen wird das kurz zuvor noch als real Empfundene weggewischt und die Verbindung zur äußeren Welt wieder hergestellt.

Die Entstehung künstlich generierter Traumwelten stellt das Gehirn vor komplexe Herausforderungen. Felnhofer ist davon überzeugt, dass es sich "aufgrund seiner enorm hohen Plastizität an die Gegebenheiten anpassen wird. Es ist möglich, dass das Gehirn mit der Zeit lernen wird, vermehrt auf Signale zu achten, die es ihm besser ermöglichen, zwischen physischer und virtueller Realität zu unterscheiden und entsprechende physiologische Reaktionen zu kontrollieren. Derzeit lassen wir uns teilweise noch recht leicht von VR täuschen."

Für die Zukunft wird es wichtig sein, das Leben zwischen den Realitäten zu organisieren, Realitätsflucht und sozialer Verarmung entgegenzuwirken und die Imaginationskraft zu bewahren. Längere Aufenthalte werden uns mit der virtuellen Welt vertraut machen, doch dabei werden Gewissheiten ins Wanken geraten. "Sobald ein hoher Illusionsgrad erzielt wird, wird uns die Frage der Auffassungsveränderung beschäftigen. Dieser beeinflusst zwar 'nur' die sinnliche Wahrnehmung. Die Verarbeitung im Gehirn hängt dann von vielen anderen uns bestimmenden Prozessen ab", sagt Schlögl. Zugleich wird die unbegrenzte Anzahl zugänglicher Erfahrungen das Feld der Emotionen aufwühlen.

Es bleibt zu hoffen, dass die intensive Hinwendung zur virtuellen Welt uns nicht so bald auf die andere Seite versetzen wird wie in Julio Cortázars Kurzgeschichte "Axolotl". In dieser Absonderungsmetapher gelingt dem faszinierten Protagonisten nach intensivem Sich-hinein-Versetzen in die kleinen Schwanzlurche schließlich die totale Immersion. Unmerklich findet er sich eines Tages auf der anderen Seite des Glases wieder, angeblickt von jenem nun leeren Betrachter, welcher vor der allmählichen Transformation noch er selbst war.

Ach ja, wie ist das eigentlich mit dem virtuellen Leben nach dem Tod?

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