Religion als Therapie und Kritik
Die Kirche in einer neuen Rolle? Muss sie sich historisch und sozial neu positionieren?
vom 21.06.2017
Isabella Guanzini, Fundamentaltheologin an der Karl-Franzens-Universität Graz, erklärt die Rückbesinnung auf die Religion und die Aufgabe der Theologie dabei.
Frau Guanzini, der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer sprach vom westlichen Christentum als einer Religion, welche die "mündig gewordene Welt" nicht brauche. Wie aktuell sind seine Visionen eines "religionslosen Christentums" und einer Zukunft ohne Religion?
Isabella Guanzini: Die Terroranschläge des 11. September 2001 haben in einer sehr dramatischen Weise gezeigt, dass die Religion noch ein gefährliches Machtpotenzial hat und als etwas zutiefst Ambivalentes verstanden werden muss: Einerseits bietet die religiöse Erfahrung eine notwendige Sprache und ein tiefes Verständnis für verfehlte Lebensgeschichten. Andererseits enthält Religion ein beträchtliches Gefährdungspotenzial, das die Menschen zu Verblendung, Hass und Gewalt führen kann. Gleichzeitig ist der Kapitalismus, wie Walter Benjamin gezeigt hat, die neue Religion unserer Zeit. Sie hält jedoch kein Erlösungspotenzial bereit, sondern gründet auf einer unerschöpflichen Schuld. Religionen haben das Potenzial, die Radikalismen und Fundamentalismen innerhalb der vernetzten globalisierten Welt zu verschärfen. Aber sie sind auch in der Lage, zur Lösung dieser Tendenzen sowie zu friedenstiftenden Bildungsprozessen beizutragen.
Welche Rollen kann der Theologie in diesem Szenario zukommen?
Guanzini: In der nachmodernen Gesellschaft kann man der Theologie ebenso wie der Religion eine therapeutische oder eine kritische Funktion zuschreiben. Sie müssen entscheiden, ob Sie die Aufgabe der Religion darin sehen, den Menschen der bestehenden Ordnung besser anzupassen, oder darin, das zur Sprache bringen, was mit der Ordnung an sich nicht stimmt, und einen Raum für abweichende, kritische Stimmen auch innerhalb der Religion zu etablieren.
Was verstehen Sie unter "therapeutisch"?
Guanzini: Therapeutisch nicht in einem kurativen, sondern eher palliativen Sinne: Religion hilft den Menschen, ihr Schicksal zu ertragen und im System besser zu funktionieren. Sie ist, wie alle kulturindustrielle Religiosität, ein Opium. Die "Rückkehr der Religionen" ist auch im Licht dieser tröstenden Tendenz zu verstehen: Sie hat den Charakter des Artifiziellen. Religion wird als Trostmittel angeboten, die Menschen werden fromm. Aber diese Art der Frömmigkeit scheint keine Zukunftsfähigkeit aufzuweisen. Ich denke, dass die jüdisch-christliche Tradition noch heute das Potenzial hat, kritische Instanzen gegenüber den Machtmechanismen und den entfremdenden Strukturen der zeitgenössischen globalen Welt freizusetzen.
Wann ist Religion kritisch?
Guanzini: Das ist sie, soweit sie sich weigert, die ihr zugedachte systemerhaltende Rolle zu spielen, und stattdessen prophetische sowie subversive Traditionen ins Gedächtnis ruft und die geltende Ordnung in Frage stellt. Nachdem die Kirche ihre tragende Funktion für die Gesellschaft fortschreitend verloren hat, wäre es wichtig, dass sie diese kritische Rolle einnimmt und sich historisch und sozial neu positioniert. Ein kritisches Verständnis basiert auf dem Versuch, die Bedeutung der biblischen Gottesrede für die geschichtlichen und gesellschaftlichen Prozesse der Zeit zu artikulieren. Es wendet sich dabei nicht zuletzt gegen die Auffassung, dass ein Ernstnehmen der Moderne und der politischen Aufklärung notwendigerweise zur strikten Privatisierung des Gottesthemas wie überhaupt der Religion führt. Es geht um eine religiöse Erfahrung, welche die Kontingenz und die Fragen der heutigen Menschen ernst nimmt und die Tiefe der Diesseitigkeit berücksichtigt. Um mit Dietrich Bonhoeffer zu sprechen: Denn erst in der "vollen Diesseitigkeit des Lebens, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten", lernt man glauben.
Inwiefern bedroht die steigende Bedeutung von Wissenschaft die Religion?
Guanzini: Religiös-fundamentalistische und naturalistisch-szientistische Aussagen teilen den gleichen Diskurs des Positivismus: Jede Vision, jede Vorstellung, jede Meinung, jeder Glaube oder Nicht-Glaube muss auf die gleiche Modalität eines positiven Wissens reduziert werden. Positives Wissen bedeutet hier so viel wie "Tatsachenwissen", wie objektiv feststellbare Gewissheiten, die mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Methoden eindeutig festzustellen sind. Dieser Diskurs bringt eine "Leidenschaft für die Rechtfertigung" zum Ausdruck, die keine Transzendenz, keinen Mangel, keinen Rest oder Überschuss erträgt, und neigt mit seiner Totalisierung oder Verdrängung des Sinns dazu, den Zwischenraum der symbolischen Erfahrung zu überschwemmen. Also das zu verdrängen, was über positiv feststellbare Tatsachen hinausgeht. Die religiöse Erfahrung unterbricht diese Totalisierung des Sinns oder des Unsinns, führt eine Lücke ein und zeigt den Menschen ein tieferes Verständnis der Lebenswelt, das neue Horizonte freizusetzen vermag. Die Aufgabe der Theologie ist es, zu zeigen, dass etwas unserer Macht entzogen bleibt und sich aus dieser Ohnmacht des Menschen erst Liebe, Glaube, Verantwortung und Mitleid generieren.
Wie kritisch kann die Theologie dabei verfahren? Lehrstühle werden im Einvernehmen mit den Kirchen besetzt...
Guanzini: Man kann nicht ohne Freiheit denken. Aber man kann auch nicht ohne Kontext, ohne eine gewisse "Geworfenheit" denken. Das Eingebundensein in die Kirche ist nicht als eine Art der Kontrolle, sondern als eine Bindung mit einer symbolischen Ordnung, mit einer sprachlichen und kulturellen Überlieferung zu verstehen. Obwohl heute die Theologie das Bewusstsein entwickelt hat, dass diese gemeinsame symbolische Ordnung in Gefahr ist. Das Christentum erlaubt nicht nur, sondern verlangt vielmehr einen selbstkritischen Diskurs, der einen echten Bestandteil der christlichen Tradition bildet. In dieser Perspektive muss die Theologie den Fragen und den Visionen auch von nichtreligiösen und nichtchristlichen Menschen Rechnung tragen. Auf diese Weise hat sie die entscheidende Aufgabe, die religiöse Erfahrung und die Theologie selbst vor ihren eigenen fundamentalistischen Tendenzen zu beschützen, indem sie sowohl ihre argumentativen Ressourcen als auch ihre kulturelle und geschichtliche Verwurzelung aufzuwerten versucht.
Warum vertreten viele Theologen in Bezug auf "Wahrheit","Gott" oder "Offenbarung" so weiche Konzepte?
Guanzini: Was meinen Sie mit "weich"? Ich habe gerade ein Buch über Zärtlichkeit geschrieben, um zu zeigen, dass sie nicht einfach einem vagen Gefühl der Empathie oder Nähe, sondern vielmehr einer elementaren Wahrnehmung der Endlichkeit entspricht, nämlich der Verletzlichkeit und Vergänglichkeit aller Dinge. Es geht um die Wahrnehmung der Wahrheit des Endlichen als Bewusstsein seiner Verletzlichkeit und seines immer möglichen Entschwindens. Ich glaube, dass die Zärtlichkeit eine sehr luzide und starke Kategorie der Wahrheit und des Glaubens darstellt, die einer möglichen alternativen post-säkularen Kategorie entspricht, welche die prekäre Dimension der Wirklichkeit nicht verdrängt. Die Wahrnehmung des menschlichen Elends radikalisiert jedoch nicht die Zerstreuung und die Entfremdung, sondern intensiviert im Gegenteil die Sorge und die Bewahrung.
Wo liegen denn nun die großen Herausforderungen für die Theologie im 21. Jahrhundert?
Guanzini: Die Theologie ist heute in besonderer Weise gefragt, über den Glauben und ihre antifundamentalistischen Ressourcen Verantwortung zu tragen und diese immer neu zu entwickeln. Die Theologie stellt wie die Kunst und die Psychoanalyse eine Art der Sublimierung dar, die der grundlegend ambivalenten Dimension des Heiligen eine sprachliche und symbolische Form anbieten kann. Dieser Versuch ist nicht ohne theologische, kulturelle und sozio-politische Bedeutung. Wenn die elementaren Affekte und Gefühle nicht verarbeitet und gestaltet werden, wiederholen sie sich triebhafter im gesellschaftlichen Kontext.