Altruismus im Islam

Welche Formen des selbstlosen Einsatzes für andere finden sich in Lehre und Alltag?

Text: Sophie Jaeger
vom 15.11.2017

Altruistische Konzepte sind in den Weltreligionen weit verbreitet. Im tibetischen Buddhismus beispielsweise wird der Dalai Lama als "Bodhisattva" oder "Erleuchteter des Mitgefühls" verehrt. Bodhisattva könnten, gemäß der tibetischen Vorstellung, aufgrund ihrer Erleuchtung den Kreislauf der Wiedergeburt verlassen, kehren jedoch auf die Erde zurück, um das Leid anderer zu mindern.

Im Judentum und, sich davon ableitend, auch im Christentum ist Altruismus in Form von Nächstenliebe präsent. Nächstenliebe bildet das zentrale Gebot im 19. Kapitel des dritten Buches Mose im jüdischen Tanach und im christlichen Alten Testament. Das christliche Konzept der Nächstenliebe ist stark personenbezogen, mit Jesus von Nazareth als wichtigstem Vorbild.

Heute findet sich die christliche Nächstenliebe vor allem in institutionalisierter Form, beispielweise als gemeinnützige Organisationen wie Caritas oder Diakonie. Nicht erst seit dem Sommer 2015 kümmern sich derartige Organisationen vermehrt um geflüchtete Menschen aus vorwiegend muslimischen Ländern.

Im Kontakt mit Geflüchteten wird auf besonders plakative Weise deutlich, dass altruistische Ideen auch im islamischen Kulturraum stark verankert sind. Wer einmal erlebt hat, wie ein Flüchtlingskind ohne großes Nachdenken seine wenigen Münzen in den Becher eines Bettlers wirft, wird die Erinnerung daran lange mit sich herumtragen. Woher kommt diese Bereitschaft zum Geben? Welche altruistischen Ideen lehrt der Islam?

Zwei unterschiedliche Blicke auf die Nächstenliebe im Islam

Im Gespräch mit Rüdiger Lohlker, Professor für Islamwissenschaft am Institut für Orientalistik der Universität Wien, und Mamdouh El Attar, Imam und islamischer Religionslehrer, ergeben sich zwei wissenschaftliche und doch grundverschiedene Sichtweisen auf die altruistischen Komponenten in der islamischen Lehre.

Lohlker studierte in Göttingen unter anderem Rechtswissenschaft, Arabistik und Islamwissenschaft. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen islamisches Recht sowie aktuelle islamische Bewegungen wie Salafismus und Dschihadismus. Außerdem publizierte er zur Rolle und Lebenswelt der Muslime in Österreich.

Mamdouh El Attar hat in Kairo und Wien Wirtschaftswissenschaften und Islamwissenschaften studiert, absolviert derzeit an der Universität Wien ein Doktorratsstudium in Islamwissenschaft und ist als Imam tätig. Außerdem unterrichtet er islamische Religion an den Handelsakademien in Hetzendorf und Margareten.

Während Lohlker den Islam von einem sehr nüchternen Standpunkt aus betrachtet, argumentiert El Attar als praktizierender Muslim weitaus emotionaler und kann auch Einblicke in die gesellschaftliche Realität des gelebten Islams geben.

Vergleichen mit dem christlichen Konzept der Nächstenliebe steht Lohlker sehr kritisch gegenüber. "Solche Vergleiche sind schwierig, weil es im islamischen Kulturraum keine Gesamtkonzepte gibt, sondern lediglich einzelne Ideen und Vorstellungen, die unterschiedlich stark verbreitet sind."

Religiöse Toleranz in der Lehre des Sufismus - und seine Gegner

Lohlker weist darauf hin, dass es im Sufismus, einer der spirituellen Strömungen im islamischen Kulturkreis, eine weitreichende Akzeptanz des anderen gäbe. Die Lehre des Sufismus gehe davon aus, dass in allem, was die Schöpfung hervorbringt, ein Funken des Göttlichen sei. Davon ließe sich eine gewisse Gleichberechtigung der Geschöpfe ableiten. "Der sufistische Gelehrte al-Jili schreibt dazu, dass sogar Götzenanbetung eine legitime Form der Anbetung sein kann, weil Gott die Götzen ja selbst erschaffen hat."

Lohlker fügt hinzu, dass die toleranten Lehren des Sufismus, wie so viele andere Texte aus dem islamischen Kulturraum, in Europa unterrepräsentiert sind, weil sie selten übersetzt und so kaum rezipiert werden. Als weiteren wichtigen Vertreter des Sufismus nennt Lohlker den Philosophen Ibn Arabi, der in seinen Werken religiöse Toleranz fordert. Doch Anhänger sufistischer Lehren geraten zunehmend ins Visier fundamentalistischer Gruppen. Zuletzt wurden bei einem Anschlag einer Unterorganisation des IS auf einen sufistischen Schrein in Pakistan über achtzig Menschen getötet. Der Sufismus wird von salafistischen und politisch-islamischen Strömungen wie dem saudi-arabischen Wahabismus vehement abgelehnt.

Gelebte Selbstlosigkeit als Gebot der Lehre Mohammeds

Im Gegensatz zu Rüdiger Lohlker ist Imam El Attar der Meinung, dass sich Nächstenliebe unter der arabischen Bezeichnung "I'thar" (dt.: Selbstlosigkeit) klar aus dem Koran und den Hadithen (Überlieferungen der Aussprüche und Taten Mohammeds) herauslesen lässt. Zur Erläuterung von I'thar führt El Attar die Erzählung von der Migration der Anhänger Mohammeds von Mekka nach Medina an.

Die Familien, die in Mekka ihr gesamtes Hab und Gut hinter sich gelassen haben, wurden in Medina selbstlos willkommen geheißen. "Jede Familie in Medina hat eine Familie aus Mekka aufgenommen, Essen und Trinken sowie ihr gesamtes Eigentum mit den Gästen geteilt", beschreibt El Attar den Inhalt der Sure 59/Vers 9, den er zuerst auf Arabisch, dann auf Deutsch zitiert. In der Sure 3/Vers 92 heißt es, dass man "das Gütigsein nicht erlangen kann, wenn man nicht von dem spendet, was man liebt".

"Das bedeutet, dass ich nicht den Rest von meinem Essen, sondern den besten Teil meines Essens spenden soll. Oder, dass ich, wenn ich hundert Euro habe, nicht nur das Kleingeld in der Hosentasche hergeben soll", erklärt El Attar.

Eine der fünf Säulen des Islams bildet die Zakat. Sie beschreibt die für gläubige Muslime obligatorische Abgabe eines bestimmten Anteils des Einkommens an die Armen. Imam El Attar erklärt, dass es zwei Arten der Zakat gibt: Einerseits die Zakat al-mal, die eigentumsabhängig ist, andererseits die Zakat al-fitr, die am Ende jeden Ramadans eingefordert wird. Sie wird pro Person pauschal verrechnet, wobei der Betrag in den unterschiedlichen Ländern variiert.

Dem Familienoberhaupt obliegt es, die jeweilige Summe für die ganze Familie bei der Moschee oder bei einem islamischen Verein zu übergeben. Eine muslimische Familie in Österreich gibt derzeit sechs bis zehn Euro pro Person.

"Die Idee der Zakat al-fitr ist, dass diejenigen, die nichts geben können, etwas bekommen", erläutert El Attar. In Österreich würden die gesammelten Beträge meist ins Ausland geschickt, fügt er hinzu.

Ist das Geben der Zakat eine altruistische Handlung?

Die Zakat al-mal errechnet sich aus dem innerhalb eines Jahres erworbenen Eigentum und beträgt davon 2,5 Prozent. Zur Berechnung finden sich im Internet "Zakatrechner", die unter Berücksichtigung von Schulden und Verliehenem sowie Gold-und Silberbesitz (ausgenommen Schmuck, der getragen wird) den abzugebenden Betrag berechnen. Unter dem Mindestvermögen (Nissab), derzeit laut blitzrechner.de 2.856 Euro, ist keine Abgabe erforderlich.

Für Lohlker ist Zakat eine rechtliche Idee, bei der es weniger um altruistisches Handeln als um die Reinigung des in einem Jahr erworbenen Eigentums geht. "Man könnte sagen, dass Zakat eine institutionalisierte Form der Wohltätigkeit ist. Mit Altruismus hat das wenig zu tun."

El Attar hingegen sieht in der Zakat viel mehr als eine "Reinigungssteuer". Auf die Frage, warum ein gläubiger Muslim Zakat geben sollte, antwortet er: "Warum geben die Österreicher Sozialhilfe?" Die Zakat sei mit einem sozialen Netz vergleichbar, das für eine gerechtere Verteilung und Hilfe in Notsituationen sorgt, sagt der Imam.

Zumindest in dem Flüchtlingsmädchen, das dem Bettler sein Taschengeld gegeben hat, scheint die altruistische Konzeption des Islams, wie ihn El Attar versteht, gegenwärtig zu sein. El Attar sagt aber auch: "Wenn man sich theoretisch mit dem Islam beschäftigt, scheint alles optimal zu sein. Wir dürfen jedoch dabei nicht vergessen, dass wir lediglich über den Islam selbst sprechen und leider nicht über alle Muslime."

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