Zu Egoisten werden wir im Lauf der Erziehung
Meint der Psychiater Michael Musalek. Wirtschaftsforscher Ernst Fehr hat den Dalai Lama in einen Kernspintomografen gesteckt, um zu sehen, ob Güte in bestimmten Gehirnregionen entsteht -und ob sie erlernbar ist
vom 15.11.2017
"Altruismus und Empathie" - wie hängen die beiden zusammen? Um Antworten auf solche Fragen zu finden, stecken Hirnforscher mitunter auch Mönche in Kernspintomografen. Oder sogar einen Gott.
In der Schweiz hatten sich Ökonomen mit dem Dalai Lama, für seine Gläubigen immerhin ein Gott, zusammengetan. Ihre Absicht: dem Guten auf die Spur zu kommen.
"Welche Rolle altruistisches Verhalten in unserer Gesellschaft spielt, hängt stark von den institutionellen Rahmenbedingungen ab. Es gibt Umstände, in denen die eher egoistischen Menschen Einfluss ausüben, aber auch solche, unter denen Altruisten die Oberhand haben", erklärt der Wirtschaftswissenschafter Ernst Fehr von der Universität Zürich. Er befasst sich seit Langem intensiv mit dem Thema Altruismus. Wir alle haben im Prinzip die Fähigkeit zu mitfühlendem, empathischem und altruistischem Verhalten. Ob dieses Potenzial genützt wird, hängt jedoch stark vom Umfeld in Familie, Schule, Politik und Gesellschaft ab. "Starke makroökonomische Unsicherheit kann Ausländerfeindlichkeit und populistische Strömungen stärken, die wenig Mitgefühl mit Menschen aus anderen Kulturen zeigen", erklärt Fehr.
Nun hat eine Studie gezeigt, dass das Volumen einer kleinen Hirnsubstanz die Neigung zu altruistischem Verhalten beeinflusst. Die Zürcher Forscher zeigten, dass ein Zusammenhang zwischen Hirnanatomie, der Hirnaktivität und altruistischem Verhalten besteht. "Die Forschungsergebnisse warfen die Frage für uns auf, ob durch geeignetes Training oder soziale Normen das Wachstum jener Hirnregionen gefördert werden kann, die für selbstloses Verhalten notwendig sind", sagt Fehr.
Mittlerweile sind sich die meisten Gehirnforscher einig, dass das menschliche Gehirn nicht auf Egoismus, sondern auf soziale Anerkennung programmiert ist. Für den Psychiater Michael Musalek, Leiter des Anton Proksch Instituts, ist dies nur logisch, denn unser Hirn diene dem Kommunizieren: "Wir sind von Geburt an soziale Wesen und an andere Menschen wie etwa die Mutter gebunden. Zu Egoisten werden wir erst im Laufe der Erziehung, bedingt durch ein bedenkliches Systemproblem."
Wir kommen also nicht mit fertigen Gehirnen zur Welt, nein, unser Hirn entwickelt sich erst durch Kommunikation.
Doch gibt es eben auch das genaue Gegenstück zum Altruisten, nämlich die narzisstische Persönlichkeit. Sie ist geprägt durch Selbstverliebtheit, wie es uns Donald Trump und andere vorleben. Und zwar so, als hätte eine längst überholte Evolutionstheorie nach wie vor Gültigkeit.
Der englische Philosoph Herbert Spencer ging im 19. Jahrhundert davon aus, dass es im Sinne der Evolutionstheorie für jedes Lebewesen unsinnig sei, sich um Schwächere zu kümmern. Es gebe nur zwei Alternativen: fressen oder gefressen werden. Alle gegen alle, und die Stärkeren setzen sich durch.
Diese Theorie hält der Philosoph, Sozialpsychologe und Altruismusforscher an der Universität Berkeley in Kalifornien, Dacher Keltner, für blanken Unsinn. Das Gegenteil sei der Fall: "Das Gute siegt."
Auch Michael Musalek nennt das vermeintliche Recht des Stärkeren eine bloße Rechtfertigung einiger weniger Soziopathen für brutales Handeln. Und der Wiener Philosoph Franz Wuketis meint: "Hätten unsere steinzeitlichen Ahnen sich nur gegenseitig die Köpfe eingeschlagen, wären wir heute längst nicht mehr da."
Unser Gehirn belohnt uns, wenn wir Gutes tun, meint der plastische Chirurg Andre Borsche, langjähriger Vorsitzender von Interplast-Germany. In dieser gemeinnützigen Organisation engagieren sich Chirurgen für mittellose Patienten in der Dritten Welt. Regelmäßig operieren sie Kinder und Erwachsene in Asien, Afrika und Südamerika auf eigene Kosten. "Es kann zur Sucht werden, wenn man einmal erlebt hat, wie effektiv man nachhaltige Hilfe leisten kann", erklärt Borsche.
Fehr stört es nicht, wenn einige Menschen nur Gutes tun, um sich selber gut zu fühlen. Hier ist der Wirtschaftsforscher ganz Pragmatiker. "Es kommt auf das Resultat an, Hauptsache ist doch, dass Menschen kooperieren anstatt sich gegenseitig auszustechen." Der Dalai Lama hingegen meint: Manchmal lasse er sich ganz selbstlos von einer Mücke stechen und sein Blut saugen: "Ein Wohlgefühl stellt sich nachher allerdings nicht ein."