Atomblumen und Strahlenkatzen
Nuklearer Abfall ist das langlebigste Vermächtnis unserer Kultur an zukünftige Generationen
Thomas Waitz lehrt an deutschen Hochschulen und an der Universität Wien Medienwissenschaft. Weiters arbeitet er in der Redaktion der in Berlin und Zürich erscheinenden Zeitschrift für Medienwissenschaft und ist Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Medienwissenschaft.
Herr Waitz, wann wird etwas zum Medium?
Thomas Waitz: Denken Sie an die Auguren, jene römische Beamte, die man vor wichtigen Entscheidungen über die Gewogenheit der Götter befragt hat. Sie haben versucht, in den Anzeichen der Natur Hinweise zu lesen, etwa anhand der Flugbahnen von Vögeln. Wir lesen das Zittern der Börsenkurse in Grafiken als Hinweise auf gesellschaftliche Befindlichkeiten. Beides ist ähnlich spekulativ. Medienwissenschaft interessiert, warum etwas zu einer bestimmten Zeit als Medium akzeptiert ist. Die Publizistik als sozialwissenschaftliche Disziplin fragt nach Wirkungen und Zusammenhängen von Massenmedien und Gesellschaft, nach der Entwicklung von Medien. Die Medienwissenschaft bestimmt sich dadurch, dass sie mit dem traditionellen Verständnis von Geisteswissenschaft gebrochen hat: Nämlich mit jenem Axiom, dass man den Dingen durch ein verstehendes Nachvollziehen auf den Grund gehen kann. Wir sagen, dass es einen Bereich gibt, der nicht sinnhaft ist, nicht durch Sinnkonstruktionen zu verstehen und zu rekonstruieren ist. Es ist der Bereich der Medialität. Den gilt es zu untersuchen, weil dieser Bereich maßgeblich mitbestimmt, wie wir denken, handeln und fühlen. Das Bild zum Beispiel eignet sich gut als Erklärungsmodell der Medienwissenschaft. Die Kunsthistoriker erstellen einen visuellen Befund und erklären, was das Bild zeigt, wann es entstanden ist, was der Maler damit ausdrücken wollte. Uns interessiert das alles auch, aber wir schauen am liebsten auf den Rahmen des Bildes.
Den physischen oder metaphorischen?
Waitz: Auf beide. Denn dieser Rahmen ist so etwas wie die Möglichkeitsbedingung des Bildes. Man kann über die Art des Rahmens durchaus Aussagen treffen. Zum Beispiel haben die heute bevorzugten schwarzen Bilderrahmen sicher mit der Gewohnheit der Verdunkelung in Theatern zu tun. Wir schauen uns auch die Medialität des Wohnens im buchstäblichen Sinn an, denn unsere Wohnungen sind durchsetzt von Medientechnologie. Nehmen Sie die Einbauwand mit integriertem Fernseher und Bücherregalen. Das hat viel zu tun mit der Zurschaustellung von Medien. Was passiert mit der Möblierung, wenn die Medienwelt sich verändert? Aber auch die Veränderung des Begriffes "Wohnen" ist ein medienwissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand. Gleichzeitig ist die Vorstellung dessen, was eigentlich ein "Zuhause" ist, ein Topos, den man medienanalytisch untersuchen muss. Nehmen wir den "Homebutton" am Browser oder die "Homepages". Diese Konzepte sind an mediale Vorstellungen geknüpft. Oder bleiben wir beim Fernsehen. Was das heute ist, lässt sich schwer bestimmen. Ist dieses gegenwärtige Medium tatsächlich in Auflösung, jedenfalls das Broadcasting TV? Oder findet Fernsehen auch auf Youtube oder Netflix statt? Uns interessiert dabei aber nicht, einen normativen Begriff von Fernsehen zu entwickeln. Wir analysieren die gesellschaftlichen Diskurse über Fernsehen.
Sie untersuchen auch die Praxis der "Selfies" als Medium. Sind diese so etwas wie nette Erinnerungen?
Waitz: Es liegt erst einmal nahe, Selfies innerhalb der Tradition der Selbstbildnisse zu betrachten. Doch ich denke, dass diese Perspektive nicht hilfreich ist, weil bestimmte Funktionen damit nicht fokussiert werden. Ich schlage vor, Selfies als eine Technologie der Kontrolle zu verstehen, der Selbst- und Fremdkontrolle. Mit Michel Foucault kann man auch sagen, dass wir in dem Moment, in dem wir ein Selfie machen und es auf eine soziale Plattform posten, gestehen. Selfies sind immer sozial gerahmt und finden nicht im Privaten statt, sondern treffen auf ein Publikum. Foucault sieht unsere kulturelle Gegenwart als geprägt durch unterschiedliche Formen des Geständnisses, etwa der Schwächen. Im Moment des Gestehens bringen wir uns auch selbst hervor. Das funktioniert wechselseitig, wir werden hervorgebracht und arbeiten daran mit, denn es zwingt uns ja niemand dazu. Hier geht es nicht nur um eine ästhetische Funktion, sondern wir subjektivieren und arbeiten an uns. Wir sind dann Teil einer Gesellschaft, die maßgeblich auf solchen Formen der Subjektivierung beruht.
Welche Hinweise könnten Selfies einmal als Medien der Erinnerung in hundert Jahren geben?
Waitz: Man wird sich vielleicht fragen, welche Gesellschaft das war, die diesen Bildtypus hervorgebracht hat. Man könnte sich fragen, welche gesellschaftlichen Bedürfnisse und Zwänge so etwas eingefordert haben. Möglicherweise deutet man das als eine Gesellschaft, die von den Einzelnen verlangt und erwartet hat, sich immer wieder aufs Neue zu gestalten. Interessant an Selfies ist auch ihre Serialität. Es ist eine Arbeit am Selbst, die nie zum Abschluss kommt, sondern im Gegenteil, immer wieder aufs Neue eingefordert und auch geleistet wird. Ich sehe da eine neoliberale Gesellschaft, die stark auf Individualisierung basiert und dem Einzelnen Eigenverantwortung abverlangt. Die neoliberale Idee beruht ja auf der Befreiung des Einzelnen. Es ist also eine Arbeit, die jeder immer wieder zu leisten hat, scheinbar selbstbestimmt. Neoliberalismus in meinem Verständnis bedeutet auch, dass alle Bereiche des Lebens marktförmig und über den Wettbewerb organisiert werden. Das leuchtet am Beispiel der Selfies sofort ein. Es geht hier weniger um Eitelkeit, sondern um eine Machttechnologie, ein Medium der Kontrolle, das uns zum Sprechen bringt, in einer Mischung aus freiwilliger Hingabe und Erwartung von außen.
Geht es nicht auch um Selbstpräsentation?
Waitz: Nein, Selfies sind eine massenhafte Praxis und kein Jugendphänomen. Die Arbeit am Selbst kommt nie zum Ende; wir werden permanent dazu aufgefordert, endlich uns selbst zu finden und zu sein. Warum ist man eigentlich nie man selbst? Es ist ein unerreichbares Ziel. Indem wir gestehen, entwerfen wir uns als tätige Wesen, teilweise freiwillig. Es ist ein ständiges Austarieren zwischen Widerstand und Nicht-Widerstand. Eine große Rolle spielen dabei soziale Netzwerke. Freilich ist Facebook keine geeignete Medientechnologie des Widerstandes. Die Eigenlogik dieser Technik ist so stark, die Algorithmen dieser Newsfeed-Generierung sind so intransparent, dass kein Widerstandpotenzial da ist.
Ist Facebook als Medium der Erinnerung geeignet?
Waitz: Es ist relativ wahrscheinlich, dass es in hundert Jahren diese Onlineplattformen nicht mehr geben wird. Facebook ist wie alle Internettechnologien eine enorm energieaufwendige und instabile Form der Datenspeicherung und Verarbeitung. Wir haben wenig Erfahrung, wie technisch instabile Formen die Zeit überdauern. Ich verweise nur auf Websites des frühen Internet, die sind alle verschwunden. Nur weil etwas digital vorhanden ist, bedeutet das ja nicht, dass es auch zugänglich ist. Wir stehen gerade jetzt vor dem Problem der begrenzten Lebensdauer von Hardware wie CDs oder VHS oder Filmrollen. Das bedeutet enorme Probleme für die Archivierung von Daten, denn die Sammlungen auf diesen Datenspeichern lösen sich auf.
Was bleibt also?
Waitz: Nicht viel. Wenn man bewahren möchte, bedeutet das auch eine gewaltige gesellschaftliche und finanzielle Anstrengung. Man muss bedenken, dass Medienwechsel nie neutral verlaufen. Es geht immer Information verloren, oder sie verändert sich. Entscheidend ist aus meiner Sicht aber, dass wir uns nicht nur an die Vergangenheit erinnern sollen, sondern auch an die Zukunft als Möglichkeit der Gestaltung. Da fehlen die Visionen auf allen Ebenen.
Gibt es heute noch ein Leitmedium?
Waitz: Sprache und Bilder steuern maßgeblich unser Leben. Aber im engsten Sinne bestimmen algorithmische Kulturen die Gegenwart. Da gäbe es auch dringenden Forschungsbedarf.