: WAS AM ENDE BLEIBT

Weglassen

Erich Klein
vom 25.04.2018

Der Besuch mit dem befreundeten Architekten K. in Chicago wurde zur Zeitreise. Der Mann ist siebenundachtzig Jahre alt und beschloss, sich einige Objekte, die er seit mehr als einem halben Jahrhundert nur von Fotos kannte, in Augenschein zu nehmen. Etliche der ersten Hochhäuser in Stahlbauweise, frühe Wolkenkratzer, mehrere Wohnhäuser und Kirchen. K. hat selbst einige gebaut.

Berufsbedingt nimmt ein Architekt Objekte der Umgebung anders wahr. Vor allem kann er erklären, was eigentlich zu sehen ist. Etwa den Grund für die größere Breite der Chicago-Fenster: "Ein Mensch hat die Augen ja nebeneinander und nicht übereinander." Beim Anblick eines Wohnhauses mit mehreren überlappenden Dächern war K. mit einer Art Bonmot zur Stelle: "Du siehst ja, Frank Lloyd Wright hat die Schachtel aufgebrochen. Er hat die Ecken freigemacht." Das Haus war keine einfache Schachtel, der Hinweis auf die Lösung des Grundrisses im Raum erschien mir dennoch kryptisch. Über eine Kirche von Mies van der Rohe, die er in den 1950er Jahren für den Inbegriff an Modernität gehalten hatte, war K. enttäuscht. "Nicht zufällig hat Mies gesagt, dass Kirchen zum Schwierigsten in der Architektur gehören -und eine Bar!" K. lachte.

All diese Objekte zeichnet er begeistert in seinen leinengebundenen Block. Schwere Metallklammern an dessen Rändern verhinderten unerwünschtes Umblättern in der Windy City am Michigan See. K. hat den schnellen Federstrich ein Leben lang perfektioniert: In fünf, zehn Minuten entstehen ganze Stadtansichten, geradezu Weltbilder. Worin das Geheimnis seines sparsamen Realismus bestehe und ob mit Fotografieren nicht dasselbe erreichbar sei, fragte ich.

Die Antwort: "Nein! Zeichnen geschieht mit zwei Augen." Mit den zwei Augen einer Ellipse. "Das ist nicht nur ein Auge, wie es der Fotoapparat hat", sagte K. Aber noch etwas komme hinzu: "Am Wichtigsten ist das Weglassen. Man erhebt sich in die Luft und zeichnet eine Stadt, wie man will." War es das, was am Ende bleibt? Die Freiheit, wegzulassen?"Ja, man merkt sich alles besser, und zuletzt kommt es ohnehin auf die Zeichnung an. Ich komme immer mehr mit immer weniger aus!" Dieses Credo wäre noch zu ergänzen: K. nimmt gelegentlich noch an Architekturwettbewerben teil, verwendet aber selbstredend keinen Zeichencomputer. Weglassen kann nur die freie Hand.

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