Ein Wunder von Schule am Land

Der kleine Ort Hard am Bodensee hat mit viel Engagement eine Musterschule entwickelt

TEXT: IRMGARD KRAMER
vom 22.05.2019

Und überall ist alles voller Wunder", sagt der neunjährige Jannik zu europäischen Regierungsbeamten, als er sie durch "seine" Schule am See in Hard am Bodensee führt. Neun kleine, jahrgangsgemischte Schulen in drei Häusern unter einem Dach mit 680 Kindern vieler Nationen, achtzig Lehrern, einem Schulleitungsteam, vielen engagierten Menschen aus der Schülerbetreuung, dem Gebäudewarteteam, der Küchencrew und ehrenamtlich tätigen Personen.

Jannik kommt morgens mit dem Scooter. In der "Ackerdemie" kontrolliert er die Saat in seiner Kiste. Fünfzig Bäume wurden schon gepflanzt, hundert sollen es noch werden - ein wilder Garten Eden. Drei Innenhöfe verkörpern Stein, Holz und Wasser. Über den Wasserhof, durch den Bäche fließen werden, in denen Kinder Schiffchen fahren lassen, geht er in die Garderobe seines Schulhauses, trifft Ronja (13), hilft einem Erstklässler beim Schuhausziehen und studiert auf den von zwei autistischen Schülern programmierten Bildschirmen, was es zu essen gibt: Gemüseleibchen mit Salat oder Putenpicatta mit Tomatenspaghetti.

Das Restaurant wird von der Lebenshilfe geführt. Jedes Kind arbeitet eine Woche lang in der Küche mit. Kinder und Erwachsene essen gemeinsam. "Wir arbeiten viel im Freien", sagt Jannik und führt über die Terrassen entlang der Klassenzimmer. Die Grenzen zwischen Innen und Außen verschwimmen. Jannik zählt auf, was es noch alles gibt: eine Dreifachsporthalle, Profisportler, Yogalehrer, Theater-und Spielpädagogen, einen Raum für "Original Play", in dem die Kinder nach festen Regeln rangeln, einen Veranstaltungssaal mit Bühne, Flügel und Technik, Schulbands und Musikschullehrer. "Wir dürfen den Unterricht für eine halbe Stunde verlassen, um ein Instrument zu lernen."

Karin Dorner leitet die Volksschule Hard. Gemeinsam mit Christian Grabher, der die NMS führt, setzt sie ein Konzept um, bei dem sie sich vor allem an Maria Montessori, aber auch an Jesper Juul und Helle Jensen, einer dänischen Psychologin orientiert. Ihr Werk "Schule braucht Beziehung" bildet den Leitfaden für Dorner, die in regem Austausch mit Jensen steht. "Wir sind ein Schulhaus von der ersten bis zur achten Schulstufe. Bei uns arbeiten Volks-, Mittel-, AHS-und Sonderschullehrer sowie Fachleute für viele Begabungen. Jedes der drei Schulhäuser hat einen Sprecher. Es gibt wöchentliche Sitzungen und einen monatlichen Schülerrat. Die neun kleinen Schulen in einem Gebäude sollen Geborgenheit vermitteln. Wir haben Schoolguides wie Jannik, auf die ich mich verlassen kann."

Das größte Infrastrukturprojekt in der Geschichte Hards

Harald Köhlmeier, der Bürgermeister von Hard, sagt zur Schule: "Wir haben ein Direktorenteam, das für innovative Schulformen glüht und unser vollstes Vertrauen genießt. Schule im 21. Jahrhundert ist über die Wissensvermittlung hinaus ein komplexes soziales Gefüge, in das zahlreiche Lebensbereiche hineinspielen. Dem muss auch die Architektur von ,Baumschlager Hutter Partner' Rechnung tragen. Ich war sofort begeistert von der Idee einer inklusiven Schule mit einem jahrgangsgemischten Unterricht in gemeinsamen Lernräumen. So sind die besten Voraussetzungen gegeben, um Kinder individuell zu fördern und zu fordern. Jüngere haben die Möglichkeit, von Älteren zu lernen und umgekehrt. Die Schule ist mit einem Investitionsvolumen von rund 42,5 Millionen Euro das größte Infrastrukturprojekt in der Geschichte unserer Gemeinde." Sämtliche Beschlüsse zur Schule wurden im Gemeinderat einstimmig angenommen -in Hard gab es das noch nie.

"Wer zu wenig Zeit in die Phase vor der Gebäudeplanung steckt, wird Probleme bekommen", sagt Michael Pölzer, der als Bauherrenvertreter das Projekt bis zur Fertigstellung begleitete. "Daher haben wir einen großen Aufwand bei der Vorbereitung für den internationalen Architekturwettbewerb betrieben. Der Verfahrensorganisator Gerhard Gruber hat die richtigen Fragen für diesen Wettbewerb formuliert und es geschafft, die Sprache der Pädagogen in die Sprache der Architekten umzusetzen."

Weg vom betonierten Unterrichtsprogramm

"Das Projekt von ,Baumschlager Hutter Partners' zeichnete sich dadurch aus, dass es die vielschichtige Aufgabenstellung herausragend erfüllt", so Bürgermeister Köhlmeier. Es ist eine Clusterschule. Ihr Prinzip wurde in Dänemark entwickelt. Architekt Carlo Baumschlager, der Schuhkartonklassen, wie wir sie kennen, für einen großen Fehler hält, erklärt dazu: "Kinder lernen von drei Faktoren: Lehrern, Mitschülern und vom Schulgebäude selbst. Das Potenzial des Einzelnen steht im Vordergrund. Heute ist nicht vorhersehbar, was in dreißig Jahren sein wird. Unsere Gesellschaft ist noch nicht bereit, in völlig freien, also auch chaotischen, Strukturen agieren zu können. Dafür müssten sich die Menschen Wege und Räume selbst organisieren. Unsere herkömmlichen Schulen hingegen sind betoniertes Unterrichtsprogramm. Die Räume in Hard spielen alles, aber Lehrpersonal wie Kinder müssen mit ihnen umgehen lernen. Es war der erste Schulentwurf, bei dem wir die Freiheit hatten, einen eigenen Typ zu entwickeln. Das Gebäude ist ein Beitrag zur gesellschaftlichen Nachhaltigkeit."

Kinder erklären Erwachsenen ihre Schule

Ralf Bernhardt war auf Architektenseite der Projektleiter und ständiger Ansprechpartner für die beiden Direktoren. "Wir haben uns hingesetzt und gefragt: Was macht ein Kind, wenn es morgens zur Schule kommt? Was macht ein Lehrer? Wie ist der Ablauf über den Tag hinweg? Die Direktoren konnten dazu sehr konkrete Angaben machen - und haben uns trotzdem viel Spielraum gelassen. Wir haben uns den Unterricht angesehen und waren begeistert. Vor allem davon, wie dort soziale Kompetenz gefördert wird."

Jedes Detail wurde hinterfragt. "Was braucht's wirklich? Uns reichten zwei Tischhöhen, die wir über höhenverstellbare Stühle ausgleichen. Bei jeder Entscheidung haben wir uns an der Pädagogik orientiert. Zum eigenverantwortlichen Handeln gehört auch, dass Kinder mit der Haustechnik vertraut sind. Die Kinder sollen technische Zusammenhänge verstehen und eingreifen können. So muss in den Klassenbereichen die Minimallüftung durch eigenes Handeln ergänzt werden, die Kinder öffnen Lüftungsklappen oder gehen auf den Balkon. Geheizt wird mit Fernwärme. Wir sind beim Bau oft von gängigen Normen abgewichen und konnten ausreichende Begründungen liefern - und die Behörden gingen mit. Das Budget wurde nicht überschritten."

Zur Eröffnung kamen fünftausend Menschen. Alle sind stolz auf ihre Schule. "Wenn Kinder den Erwachsenen erklären, wie die Schule funktioniert, kriegt man Gänsehaut", sagt Bernhardt. "Erst dann wird klar, was hier geschaffen wurde. Ich habe das Gefühl, dass diese Schule mit ihrem Konzept über die Grenzen hinaus berühmt werden wird. Für mich war diese Arbeit einmalig. Ich fürchte, dass ich das nie wieder erleben darf."

Kinder mit Kompetenzraster statt Schulnoten

Karin Dorner sitzt nachdenklich an ihrem Schreibtisch und schaut in ein Wasserglas, in dem 680 Glücksmurmeln schwimmen, eine für jedes Kind. "Wir haben alles in die Wege geleitet und müssen es nur noch verfeinern. Aber was wollen wir gegen die neuen Gesetze ausrichten? Hoffentlich finden wir Lösungen, um mit den vom Bildungsministerium geforderten Veränderungen kreativ umzugehen. Die Schulaufsicht und das Land Vorarlberg stehen hinter uns. Ein Separieren der Kinder geht gegen meine Überzeugung. Bis zur sechsten Schulstufe gibt es bei uns keine Noten. Jedes Kind orientiert sich an einem Kompetenzraster und bekommt jährlich einen Lernentwicklungsbericht. Lehrende sind Tutoren, die mit den Kindern planen, in welcher Zeit sie was lernen. Das alles aufgeben? Das schaffe ich nicht. Aber ich werde nicht das Handtuch werfen, in so einer Schule, mit so einem wunderbaren Team!" Jannik kommt herein und gibt sein Schoolguides-T-Shirt ab. Die Besucher stehen jetzt auf der Terrasse, beobachten, wie die Sonne im See untergeht und selbst der größte Skeptiker unter ihnen findet nur noch ein Wort: "Magisch."

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