Schule aus dem 19. Jahrhundert

Reformpädagogische Unterrichtsmodelle sind sehr gefragt, obwohl sie schon hundert Jahre alt sind

Text: Barbara Freitag
vom 19.06.2019

Lernen kann man in Österreich auf viele Arten, solange die seit Maria Theresia 1774 eingeführte Unterrichtspflicht eingehalten wird. Wenn die öffentlichen Regelschulen Eltern zur Bildung ihres Nachwuchses nicht ausreichen, gibt es knapp tausend Privatschulen. Dazu zählen neben teuren Eliteschulen auch zahlreiche alternative Einrichtungen. Seit Generationen unverändert beliebt sind die "reformpädagogischen" Waldorf-oder Montessori-Schulen.

Ihr Ursprung liegt in der Lebensreformbewegung des 19. Jahrhunderts als bürgerlicher Protest gegen die Schattenseiten von Industrialisierung und Massenproduktion. Freikörperkultur, Kleiderreform, Vegetarismus und eine reformierte Pädagogik waren die Ziele. Statt Pädagogen mit Rohrstock sollte ein handlungsorientierter Unterricht auf Augenhöhe der Kinder und partnerschaftlich Lehrende treten.

Die prominentesten Systeme sind die auf Rudolf Steiner zurückgehende Waldorf-Pädagogik und jene von Maria Montessori. Beide verbindet die Fokussierung auf kindliche Bedürfnisse. Das hat seinen Preis, der laut Franz Hammerer, Erziehungswissenschafter und Vorstandsmitglied von Montessori Österreich sowie Angelika Lütkenhorst, Direktorin der Rudolf Steiner Landschule Schönau, schwer zu nennen sei. Pro Kind muss man allerdings schon mit an die fünftausend Euro jährlich rechnen.

Herr Hammerer, warum wollen Eltern eine reformpädagogische Schule?

Franz Hammerer: In vielen Schulen wird der Druck durch die Testwut der letzten Jahre immer größer. Das führt zu einem kontraproduktiven Konkurrenz-und Leistungsdruck. Eltern informieren sich heute über pädagogische Konzepte und wollen für ihr Kind eine Schule, in der nicht das Kindsein durch das Schülersein ersetzt, sondern das Kindsein um das Schülersein erweitert wird.

Was unterscheidet die Montessorischule von anderen Reformschulen?

Hammerer: Die sogenannte "Freiarbeit". Täglich haben die Kinder mindestens zwei Stunden lang die Möglichkeit, mit einem ihrer Entwicklungsphase entsprechenden großen Angebot an Entwicklungsmaterialien frei zu arbeiten und Interessen und Neigungen zu entfalten, sich selbstständig Wissen und Können anzueignen, also Lernprozesse selbst zu zu regulieren. Die Lehrperson hat nach Maria Montessori den Auftrag: Hilf dem Kind es selbst zu tun! Montessori spricht von der "Kosmischen Erziehung". Dabei geht es um die Stellung des Menschen in der Welt sowie um die Einsicht des Menschen in die Abhängigkeiten aller Phänomene der Natur; um die große Aufgabe des Menschen, das uns Anvertraute zu bewahren, zu erhalten und es weiterzubauen.

Was bedeuten für Sie " Erziehung" und "Bildung"?

Hammerer: Erziehung heißt vor allem Vorbild sein, den jungen Menschen ein Umfeld bereiten, in dem sie Haltungen und Werte vorgelebt bekommen. Persönlichkeitsentwicklung erfordert sinnstiftende Orientierungen. Bildung hat vor allem die Aufgabe der Welterschließung, der Auseinandersetzung mit den Kulturgütern in der Weise, dass eine nachhaltige Kompetenzentwicklung gewährleistet ist.

Welche Rolle spielt "Leistung" in der Montessorischule?

Hammerer: Immer wieder hört man Aussagen wie "In der Montessori-Schule tun die Kinder, was sie wollen. Leistung ist nicht besonders wichtig". Das ist Unsinn. Montessori verwendet für die Lernaktivitäten der Kinder bewusst den Begriff der Freiarbeit und betont, dass der Selbstaufbau des Menschen mit großer Anstrengung verbunden ist.

Welches Bewertungssystem empfinden Sie für angebracht?

Hammerer: Entwicklungsberichte in Form von Pensenbüchern, Lernfortschrittsdokumentationen in Kombination mit Kind-Lehrer-Elterngesprächen haben sich bewährt. Sie sind Ausdruck einer pädagogischen Leistungskultur und helfen das Denken in konkurrierenden Notenstufen zu überwinden, sie sind stärkenorientiert, ohne Defizite auszublenden. Noten widersprechen einem pädagogischen Leistungsverständnis, da sie keine Entwicklungsperspektive beinhalten und Kinder schnell in die Guten und die Schlechten einteilen.

Wie viele Kinder besuchen Montessori-Einrichtungen in Österreich?

Hammerer: Das ist schwer festzulegen, da es private Montessori-Schulen gibt und öffentliche Schulen, in denen die Montessori- Pädagogik nur in einzelnen Klassen umgesetzt wird. Jedenfalls wurden allein vom Österreichischen Bundesverband für Montessori-Pädagogik seit Anfang der 1990er Jahre rund 3.500 Montessori-Pädagogen für Kinderhaus und Schule ausgebildet.

Frau Lütkenhorst, was ist an den Waldorfschulen besonders?

Angelika Lütkenhorst: Waldorfpädagogik will die Entwicklung des Kindes und seiner Individualität ganzheitlich fördern und neben den kognitiven Leistungen auch das künstlerische Empfinden, handwerkliches Können und die sozialen Fähigkeiten im Kind bilden. "Waldorf 100 -Learn to change the World" ist das Motto des diesjährigen Schuljahres. Es geht um kein starres Festhalten an Vorbildern, sondern um ein Weiterentwickeln unter Einbezug neuer Erfahrungen und Erkenntnisse. Die moderne Hirn-und Lernforschung belegt, dass die Methoden der Waldorfpädagogik wirksam sind.

Wozu sollen junge Menschen in der Waldorfschule erzogen werden?

Lütkenhorst: Erziehung ist Potenzialentwicklung innerhalb aller Bereiche der Erfahrung und des Bewusstseins. Beziehung ist dafür wesentlich! Ziel der Bildung sind selbstbestimmte, freie Menschen, die sich selbst weiterbilden, die in der Lage sind, die Gesellschaft im Sinne des größeren Glücks aller mitzugestalten. Die Erziehenden sind dabei Entwicklungsbegleiter. Waldorfpädagogen sind nicht weisungsgebunden, sie agieren im kollegialen Kontext mit den anderen Waldorflehrern und Eltern ihrer Schule.

Welche Schule haben Sie selbst besucht?

Lütkenhorst: Im Ruhrgebiet in den1960er-Jahren eine ganz normale Volksschule. Diese Erfahrungen sind glücklicherweise längst überholt! Erst in Wien und für meine Kinder habe ich die Waldorfpädagogik entdeckt und schätzen gelernt. Nach einer Waldorflehrerausbildung arbeite ich jetzt seit vielen Jahren begeistert in der Oberstufe der Rudolf Steiner Landschule Schönau mit.

Gibt es etwas, das Regelschulen von Reformschulen übernehmen könnten? Und umgekehrt?

Lütkenhorst: Ökonomische Interessen dürfen das Bildungswesen nicht bestimmen. Es muss immer vom Kind aus gedacht werden: Was braucht es, um seine Fähigkeiten optimal entfalten zu können? Etwas Polemisches: Die Reformschulen würden gern ebenso viel Geld für ein Kind erhalten wie die Regelschulen. Zumindest achtzig Prozent wären fair! Derzeit liegt die Förderquote von Bund, Land und Gemeinden insgesamt bei rund zwanzig Prozent der Kosten.

Deshalb sind die Schulgebühren so hoch?

Lütkenhorst: Die Eltern möchten, dass die Kinder gerne in die Schule gehen, dass ihnen das Lernen Freude bereitet und dieses ohne Druck geschieht. Auch schätzen sie Alternativen zur Leistungsbeurteilung, die verbale Beurteilung. Eltern an reformpädagogischen Schulen wollen sich auch einbringen und die Schule mitgestalten. Sehr belastend ist allerdings für Eltern, dass es in Österreich keine adäquate finanzielle Unterstützung von öffentlicher Hand gibt: So erhalten die neunzehn Waldorfschulen heute nominell genau so viel Förderung wie vor zehn Jahren, obwohl die Gehaltskosten für das Lehrpersonal seitdem jährlich um rund 2,5 Prozent gestiegen sind. Die Eltern unserer Schulen müssen daher mehr als achtzig Prozent der Schulbudgets aufbringen. Wir haben derzeit 2.722 Schülerinnen und Schüler in 19 Waldorfschulen und 1.330 Kinder in 39 Waldorfkindergärten.

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