Warum wir die Braune Einsiedlerspinne melken
In der Struktur der Elementarfaser liegt das Geheimnis der Spinnenseide, der Superfaser der Zukunft
vom 19.06.2019
Der Physiker Dinidu Perera zieht den ultradünnen Faden der Braunen Einsiedlerspinne als Saite auf eine winzige Gitarre auf. Kein Mensch hat ihre Töne bisher gehört, nicht einmal ihre Konstrukteure, die Materialforscher des Nanomaterials &Imaging Lab am College of William &Mary, Virginia, USA. Sie sind dem Geheimnis um die einzigartigen Materialeigenschaften der Spinnenseide auf der Ebene der kleinsten Fasereinheit auf der Spur.
Die Nadel, pardon Spinne im Heuhaufen
Spinnenseide zu erforschen liegt im Trend. Zugfest wie Stahl, elastisch wie Gummi, weich wie Seide, antibakteriell und natürlich abbaubar gilt sie als Biomaterial der Zukunft. Eine Handvoll Firmen in Japan, Deutschland und den USA widmen sich der Anwendungsforschung und der künstlichen Herstellung. Entweder produzieren genveränderte Bakterien die Seidenproteine oder genveränderte Ziegen in der Milchbildung.
Glück, ausgeprägter Forscherinstinkt und eine ausgetüftelte Messmethode mit dem Rasterkraftmikroskop waren die Voraussetzungen für den jüngsten Durchbruch. "Weltweit gibt es ca. 40.000 Spinnenarten. Mit der Braunen Einsiedlerspinne sind wir auf die Nadel im Heuhaufen gestoßen, weil sich ihr Faden aufgrund der ultradünnen und flachen Struktur optimal erforschen lässt", sagt der Forschungsleiter Hannes Schniepp.
Der Physiker, der privat auch JazzSessions mit seinen Studenten macht, bekam den Hinweis für die Spinnenart vom Spinnen-Experten Fritz Vollrath. Schniepps Gruppe ging dieser Seidenart nach, die bisher noch niemand erforscht hatte. In der Seidenforschungs-Community setzt man in der Regel eher auf die Spitzenreiter unter den Starken-Faden-Arten, etwa die Radnetzspinne. Oder man arbeitet an Verfahren, Spinnenseide künstlich herzustellen.
Den Faden gewinnen die Forscher, indem sie die Spinne melken, sprich sich den Spinnreflex zunutze machen und den Faden von Hand aufspulen, sanft und ohne das Tier zu verletzen. Bei der Braunen Einsiedlerspinne ist das kein ungefährliches Unterfangen. Ihr Biss ist giftig und kann Kopfschmerzen, Übelkeit und Krämpfe auslösen, selten sogar tödlich sein.
Klebrig wie Tixo, aber 2.000 mal kleiner
Ihr Faden ist nicht zylindrisch rund wie bei anderen Spinnen, sondern gleicht einem flachen Band wie einem Tixo-Film, nur ca. 2.000 mal kleiner, aber genauso klebrig. Diese Form lässt sich mit dem Rasterkraftmikroskop unter natürlichen Bedingungen sehr präzise untersuchen. Ein runder Faden würde unter der Silizium-Cantilever-Spitze, die nur fünf Millionstel Millimeter groß ist, wegrollen.
"Der zweite Vorteil der ultradünnen Bandstruktur ist, dass sich praktisch das ganze Material an der Oberfläche befindet, ähnlich wie bei dünnen Filmen. Das bedeutet, die spannenden Eigenschaften dieser Spinnenseide sind maßgeblich durch die Oberfläche bestimmt. Und diese besteht komplett aus Nanofibrillen, was wir zeigen konnten", erläutert Hannes Schniepp.
Die Nanofibrillen sind mit einem Durchmesser von rund zwanzig Nanometer die kleinsten Fasern eines Spinnenfadens, sie sind sozusagen die Elementarfaser, aus der ein Faden aufgebaut ist, der rund viertausend Mal dünner ist als der Durchmesser eines menschlichen Haares und auf der Größenskala von Proteinmolekülen beruht.
"Unsere nächsten Fragen beschäftigen sich damit, wie die Proteine der Nanofibrille organisiert sind, oder wie die Fibrillen untereinander verbunden sind und wie lang eine Nanofibrille überhaupt sein kann."
Die Braune Einsiedlerspinne spinnt kein Radnetz, sondern ein loopartiges klebriges Gewölle, ähnlich einem Stacheldrahthaufen. Sie hinterlässt es auf dem Boden und im Gehölz, um damit Beutetiere zu fangen.
Ihre Spinnenseide verspricht vielfältige Anwendungen: in Medizintechnik, Kosmetik, als funktionale Faser für Sicherheits-oder Outdoorbekleidung und elastische Werkstoffe. Auch die Ökobilanz bei der Herstellung dieser Materialien spricht für die Braune Einsiedlerspinne. Sie braucht nur ein ruhiges Plätzchen und ein paar Heuschrecken als Nahrung.