Wahr oder falsch?

Der Experte Didier Fassin erklärt, was sich aus Verschwörungstheorien lernen lässt

TEXT: HANNAH GREBER
vom 13.11.2019

Der Anthropologe, Soziologe und Mediziner Didier Fassin hat umfangreiche Feldstudien im Senegal, in Südafrika, Ecuador und Frankreich unternommen und ist dabei immer wieder dem Phänomen der Verschwörungstheorien auf den Grund gegangen. Der Professor an der Universität Princeton und Studienleiter an der Elite-Hochschule École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris erklärt, was Verschwörungstheorien von Fake-News unterscheidet, in welchem gesellschaftlichen Klima sie aufblühen und ob wir sicher sein können, dass Verschwörungstheorien wirklich unwahr sind.

Was ist eine Verschwörungstheorie?

Didier Fassin: Verschwörungstheorien sind Interpretationen von Phänomenen, die als unwillkommen und als Resultat von böswilligen Absichten mächtiger und geheimer Akteure gelten. So sei etwa die AIDS-Epidemie in Afrika das Ergebnis von Virenmanipulationen in westlichen Laboren, oder die Attacken rund um 9/11 vom US-Geheimdienst organisiert, oder die Migration von Muslimen nach Europa geplant, um zu einem Austausch der christlichen Bevölkerung zu führen. In den letzten Jahren wurden Verschwörungstheorien immer wieder mit Fake-News verwechselt. Diese sind aber meistens einfache, vorsätzliche Lügen. Ein Beispiel dafür ist die Unterstellung, Barack Obama sei ein in Kenia geborener Muslim, eine Behauptung, die nur aufgestellt wurde, um den Präsidenten zu delegitimieren und die Demokratie zu schwächen. Fake-News, die besonders unter der Regierung von Präsident Trump aufgekommen sind, werden absichtlich, meistens von rechtsextremen Medien und ausländischen Robotern verbreitet. Im Gegensatz dazu sind Verschwörungstheorien meist sehr diffus, haben keinen klar definierbaren Ursprung oder gar Autor. Und sie schlagen eine Theorie über die Vorgänge in der Welt vor.

Haben Verschwörungstheorien derzeit Konjunktur?

Fassin: Es ist schwierig festzustellen, ob Verschwörungstheorien heute häufiger vorkommen als vor fünfzig oder gar vor zweihundert Jahren. Der Glaube an ein Komplott der Illuminati oder der Freimaurer geht bis ins späte 18. Jahrhundert zurück, war aber auch während des Kalten Krieges sehr beliebt. Trotzdem wirkt es so, als würden viele Verschwörungstheorien in jüngster Zeit wieder aufleben. Das ist zu einem Teil ihrer größeren Sichtbarkeit geschuldet, denn sie zirkulieren weitläufig durch das Internet und durch soziale Medien. Aber es stimmt eben auch, dass sie unter autoritären und populistischen Regimen tendenziell aufblühen. Solche Regime haben sich weltweit vermehrt und profitieren von verschwörerischen Thematiken, weil sie imaginäre Feinde benötigen, um Erfolg zu haben. Abgesehen davon wuchern Verschwörungstheorien auch in Zeiten von Angst und Furcht. Gerade moderne Gesellschaften zeichnen sich durch eine tiefe Unsicherheit über die Zukunft des Planeten, über internationale Spannungen und eine wachsende Ungleichheit aus.

Was begünstigt sonst noch die Verbreitung von Verschwörungstheorien?

Fassin: Es gibt ganz grundsätzliche Faktoren, die die Verbreitung von Verschwörungstheorien einfach machen. So tendieren Menschen dazu, sich bei Ungewissheiten über den Zustand der Welt unwohl zu fühlen. Sie suchen deshalb nach einem Grund, der alle Phänomene erklärt. Verschwörungstheorien liefern solche ursächlichen Interpretationen. Aber das erklärt nicht, warum verschwörerische Ideen zu gewissen Zeiten an gewissen Orten aufblühen und wieso wir einen vermeintlichen Anstieg an Verschwörungstheorien sehen. Zwei Elemente scheinen dafür wichtig zu sein. Das erste ist politisch. In den letzten Jahren hat es immer wieder Rufe nach mehr Transparenz in öffentlichen Belangen und der wissenschaftlichen Arbeit gegeben. Trotzdem haben die meisten Menschen nicht ganz zu Unrecht den Eindruck, dass die Welt immer intransparenter wird und dass Politiker wie Wissenschaftler ihnen nicht die Wahrheit sagen. Das zweite Element ist technologisch. Das zweite Element ist technologisch. Die Entwicklung des Internets und der sozialen Netzwerke sowie deren Instrumentalisierung für ideologische Projekte durch Alt-Right-Gruppierungen und ausländische Kräfte haben die Verbreitung von Verschwörungstheorien beschleunigt und die Hierarchie des Wissens verzerrt. Diese Ideologien kursieren durch die Technologie nicht nur schneller, sondern tauchen mittlerweile sogar an oberster Stelle von Suchmaschinenergebnissen auf.

Wer glaubt an Verschwörungstheorien?

Fassin: Es wird angenommen, dass die objektiv definierte oder subjektiv angenommene Position einer Person in der Gesellschaft eines der Elemente ist, die den Glauben an Verschwörungstheorien begünstigen. Menschen, die sich aufgrund ihres sozioökonomischen Status oder ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit wie die Afro-Amerikaner in den USA dominiert und machtlos fühlen, sind eher geneigt, daran zu glauben, dass die Mächtigen ein Komplott gegen sie schmieden. Während der ersten Jahrzehnte der AIDS-Epidemie in Südafrika haben viele schwarze Menschen geglaubt, dass Weiße den Virus eingeführt haben und dass die Regierung keine Medizin an die Bevölkerung verteilt, weil die Regierung sie loswerden wollte. Dieser sozioökonomische und ethnische Trend bedeutet jedoch nicht, dass Verschwörungstheorien in einer gebildeten Oberschicht nicht existieren.

Welchen Einfluss können Verschwörungstheorien auf eine Gesellschaft haben?

Fassin: Sie benennen oft konkrete Verschwörer. Daher können sie für diese verdächtig gemachten Personen sehr gefährlich werden. Die berüchtigten ,Protokolle der Weisen von Zion', eine Fälschung, um Juden zu diskreditieren, haben eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung und Legitimierung von Antisemitismus in Europa gespielt. Die McCarthy-Kampagne in den USA gegen vermeintliche Kommunisten hat zur Verfolgung und sogar Hinrichtung vieler Menschen geführt. Der Mann, der vor Kurzem zwei Personen am Eingang einer Moschee im Süden Frankreichs erschossen hat, sagte, dass er die vorgebliche kriminelle Rolle von Muslimen beim Brand der Kathedrale Notre Dame in Paris einige Monate zuvor rächen wollte. Im Allgemeinen sind Verschwörungstheorien daran beteiligt, ein paranoides Klima zu kreieren, das für eine Gesellschaft schädlich ist. Dennoch verdienen sie die Aufmerksamkeit von Sozialwissenschaftlern. Verschwörungstheorien sollten nicht verunglimpft oder verspottet werden, denn sie sind ein gesellschaftliches Phänomen und interessant, weil sie als Prisma die Welt in ihren Spielarten zeigen. Sie helfen dabei, über Gesellschaften nachzudenken und deren Geschichte, deren Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, deren soziale Strukturen und Kräfteverhältnisse einzuordnen.

Wie kann man sicher sein, dass Verschwörungstheorien nicht wahr sind?

Fassin: Um von "Verschwörungstheorie" sprechen zu können, muss man der Überzeugung sein, dass das dazugehörige Komplott in Wirklichkeit gar nicht existiert. Mit anderen Worten, aus der Perspektive des sogenannten Mainstream werden Verschwörungstheorien als falsch angesehen. Allerdings, und dies macht sie interessant, kommt es nicht selten vor, dass sie ein Körnchen Wahrheit enthalten. So sind verschiedene Epidemien auf dem afrikanischen Kontinent, über die verschwörerische Theorien existieren, bewiesenermaßen das ungewollte Resultat westlicher Interventionen, etwa von Impfungen. So diente eine Pestepidemie in Südafrika um 1900 als Begründung für erste Segregationsgesetze, die nach jeder weiteren Epidemie erweitert wurden. Egal, ob es sich dabei um die Grippe, Tuberkulose oder Syphilis handelte. Untersuchungen im Finanzsektor haben gezeigt, dass die Wirtschaftskrise im Jahr 2008 eine Konsequenz von Intrigen skrupelloser Banker, unethischer Wissenschaftler und mitschuldiger Regierungen war. Echte Verschwörungen existieren durchaus. Manchmal können sie sogar vorteilhaft sein, etwa wenn sie einen Diktator stürzen. Deshalb sind sie faszinierende intellektuelle Konstrukte, die uns dazu zwingen, unsere einfache Trennung von wahr und falsch, gut und böse zu hinterfragen.

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