Die Maus als Versuchskaninchen

Bruno Podesser, Leiter des Zentrums für Biomedizinische Forschung, erklärt das "Mausmodell"

TEXT: BARBARA FREITAG
vom 03.06.2020

Bruno Podesser ist Herzchirurg und leitet das Zentrum für Biomedizinische Forschung der Medizinischen Universität Wien. Er koordiniert die "Ethik-Kommission zur Beratung und Begutachtung von Forschungsprojekten am Tier" und arbeitet als Vorstandsmitglied des Clusters für kardiovaskuläre Forschung der Ludwig Boltzmann Gesellschaft.

Herr Podesser, warum ist die Maus als Modell geeignet?

Bruno Podesser: Die genetische Übereinstimmung von Maus und Mensch beträgt 99 Prozent. Mäuse lassen sich leicht züchten und man kann sie einfach genetisch verändern. Trotz ihrer Kleinheit kann man ihr Herz durch Ultraschall vermessen oder aus ihren Organen Gewebematerial für weiterführende Untersuchung gewinnen. Daher hat die Maus als Versuchstier mittlerweile fast alle anderen Säuger abgelöst. In der EU und auch in Österreich sind 75 bis achtzig Prozent der Versuchstiere Mäuse.

Was heißt "Mausmodell" eigentlich?

Podesser: Es ist ein technischer Ausdruck für ein Testsystem. Andere Testsysteme in der Biomedizin sind die Zellkultur und das Organoid. Am Mausmodell wird etwa die Frage geklärt, ob eine Substanz als Therapeutikum für eine Krebsform infrage kommt. In diesem Fall würde man der Maus Tumorzellen applizieren, dann durchläuft sie ein Therapieschema, das einer Chemotherapie am Menschen entspricht. Aus der Herzkreislaufforschung gibt es laufend neue Medikamente, die auf ihre Wirkung bei der Regeneration des Herzmuskels getestet werden. Diese neuen Substanzen könnten Patienten nach einem Herzinfarkt helfen. Ein erfolgreiches Beispiel für einen Wissenstransfer vom Nager in den Menschen ist die Entwicklung der ACE-Hemmer und Angiotensin-II-Blocker, die heute zur Standardtherapie nach einem Herzinfarkt und bei Bluthochdruck zählen.

Was unterscheidet Labor-und Feldmäuse?

Podesser: Eine Labormaus muss im Gegensatz zur Feldmaus unter standardisierten und reproduzierbaren Bedingungen gehalten werden: Temperatur und Luftfeuchtigkeit müssen konstant sein, ihr Futter muss standardisiert sein, ebenso der Tag-/Nachtzyklus der Beleuchtung. Nur geschultes Personal darf die Tiere betreuen, also Tierärzte und Tierpfleger mit einem Lehrabschluss. Wir am Zentrum für Biomedizin sind sogar Lehrlingsausbildner. Unsere Betreuer und Betreuerinnen nehmen das Tierwohl sehr ernst. Sie machen alles mit viel Herz und unter maximaler Schonung der Tiere. Wir wägen im Vorfeld sehr genau ab, in welchem Verhältnis der Nutzen und die Erkenntnis eines Versuchs zum Aufwand für die Tiere stehen und diskutieren dies mit den Experimentatoren. wäre die Qual für die Tiere zu groß, darf der Versuch nicht gemacht werden. So steht es im Österreichischen Tierversuchsgesetz 2012, das in Europa als besonders streng und transparent gilt und woran wir uns alle sehr genau halten.

Woher kommen Ihre Mäuse?

Podesser: Wir haben in Himberg die Abteilung für Labortierkunde und Genetik, wo wir selbst züchten. Dann gibt es einige große, internationale, kommerzielle Züchter, von denen man spezielle Mäuse beziehen kann. Mittlerweile gibt es viele Stämme mit genetischen Veränderungen auch dank der Genschere CRISPR/Cas9, die immer präzisere Veränderungen ermöglicht.

Wie wird so ein Mausversuch gemacht?

Podesser: Jeder Tierversuch an der MedUni Wien muss von der universitätseigenen Tierethikkommission geprüft und befürwortet werden, bevor er beim Wissenschaftsministerium zur Prüfung und Genehmigung eingereicht wird. Dabei muss zunächst bei jedem Experiment herausgefunden werden, welches Tiermodell für den geplanten Versuch passt. Jeder Forschende bekommt an der MedUni Wien einen Mentor zugewiesen und diskutiert mit diesem die Fragestellung ausführlich. Der Mentor hinterfragt kritisch die Versuchsanordnung, wobei das sogenannte "3R-Prinzip" gilt: "Reduce -Refine - Replace". Das bedeutet, dass wir uns anschauen, ob es überhaupt einen Tierversuch braucht oder vielleicht eine ex-vivo-Untersuchung etwa an Zellkulturen möglich wäre. In einem weiteren Schritt wird die Anzahl der Tiere kalkuliert. Ziel ist die geringstmögliche Anzahl an Tieren, die noch statistisch aussagekräftig ist. Schließlich geht es um die Optimierung des Versuchsablaufs, um möglichst schonend vorzugehen. In den letzten Jahren prüfen wir die geplanten Versuche auch auf ihre "Reproduceability", denn Versuche müssen wiederholbar, standardisierbar und damit vergleichbar sein. Wenn einer der oben genannten Punkte nicht gegeben ist, wird der Versuch von der Tierethikkommission nicht befürwortet. Die Kommission und das Zentrum für Biomedizin verstehen sich als die "obersten Tierschützer der Medizinischen Universität Wien".

Es gibt allerdings auch immer wieder Einwände, was die Vergleichbarkeit betrifft.

Podesser: Ja, das stimmt! Darum ist uns das vierte "R", die "Reproduceability", so wichtig. Dabei geht es auch immer um Qualität in der Forschung. Wenn 99 Prozent der Forscher seriös arbeiten und nur ein Prozent nicht, ist die Glaubwürdigkeit der ganzen Wissenschaft infrage gestellt. Vor allem geht es um Transparenz bei den Abläufen und um die Überprüfung der Ergebnisse durch ein sogenanntes "Peer-Review"- Verfahren, also durch unabhängige Expertinnen und Experten.

In einem Gespräch über Versuche an Mäusen kann man die ethische Perspektive nicht außer Acht lassen.

Podesser: Das ist eine sehr wichtige Frage, ich stelle mich gern und jederzeit der Diskussion. Grundsätzlich gibt es eine gesellschaftliche Vereinbarung und hohes Interesse daran, neues Wissen zu generieren. Ein Ort dafür sind die Universitäten. Die Allgemeinheit unterstützt die Universitäten auf vielfache Weise und finanziert diese in Österreich auch großteils. Somit hat sie meiner Meinung nach das Recht zu erfahren, was bei uns geschieht. Wir sind der Gesellschaft verantwortlich, dass wir Forschung nach höchsten Grundsätzen und unter Bedachtnahme auf alle ethisch relevanten Fragen durchführen. Daher nehmen wir die Anträge für neue Tierversuche auch sehr ernst und prüfen die wissenschaftliche Frage auf Herz und Nieren. Eine medizinische Universität muss das Recht haben, Forschung zum Wohl der Patienten durchzuführen. Das ist unser Handwerk und gehört genauso dazu wie die Behandlung unserer Patienten und die Ausbildung. Eine Universität, die nicht forscht, ist in meinen Augen keine vollwertige Universität. Lassen Sie mich noch einen Satz zu den Versuchstierzahlen und den sogenannten Lebenswissenschaften sagen: In Österreich wurden in den letzten Jahren jährlich ca. 240.000 Tiere für wissenschaftliche Zwecke eingesetzt, diese Zahlen sind weitgehend stabil. Wie schon gesagt, sind achtzig Prozent davon Mäuse, und die einzige Spezies, die derzeit Zuwächse aufweist, sind Fische. Vor allem wenige Zentimeter große Zebrafische, die in großen Aquarien gehalten und ähnlich der Maus in der Grundlagenwissenschaft eingesetzt werden. Wichtig zu betonen ist mir auch, dass wir mit dem aktuellen Tierversuchsgesetz und der strengen Prüfungen die Zahl der Versuchstiere von 500.000 seit Anfang der 1990er Jahre auf 240.000 halbiert haben. Für die Nahrungsmittelproduktion werden in Österreich jährlich 85 Millionen Tiere verbraucht. Somit ist der Anteil der Wissenschaft rund 0,35 Prozent. Die Lebenswissenschaften sichern in Österreich rund 60.000 Arbeitsplätze und generieren zwanzig Milliarden Euro des BIP.

Findet auch die Coronavirusforschung am Mausmodell statt?

Podesser: Ja natürlich. Wir haben gerade einige Versuche beim Wissenschaftsministerium beantragt. Die ersten konkreten Forschungen starten und haben unter anderem das Ziel, bereits bekannte Medikamente im Einsatz bei Covid-19 zu testen. Außerdem wollen wir mehr über die Entwicklung der Erkrankung in der Lunge und den kleinen Gefäßen wissen. Hier arbeiten Forschungsgruppen der Medizinischen Universität Wien im Verein mit anderen Universitäten in Europa und bemühen sich um neue Therapien.

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