Risikogruppen
vom 03.06.2020
Die Coronakrise hat die Wissenschaft ungewohnt heftig in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Forscherinnen und Forscher tauchen überall in den Medien auf. Und damit auch Fragen über die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Denn die Pandemie ist nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein statistisches Phänomen. Politik und Öffentlichkeit betrachten die neuen Zahlen gleichermaßen aufmerksam. Wie viele zusätzliche Infektionen gibt es? Wie viele neue Tote? Die Betrachtung dieser Fakten ist mit Sicherheit wichtig. Aber in diesem Fall stehen hinter den Zahlen immer auch konkrete Menschen.
Die "+4" etwa, die in der Statistik beim Zuwachs der Todesfälle an dem Tag vermerkt ist, an dem ich diesen Text schreibe, steht für vier ganz reale Menschen die gestern noch gelebt haben und heute verstorben sind. Menschen mit Angehörigen, die um ihren Verlust trauern.
Die Wissenschaft kann nicht anders, als die Lage sachlich und nüchtern zu betrachten. Sie braucht die abstrakten Zahlen, um die ablaufenden Prozesse auswerten und verstehen zu können. Aber das dadurch gewonnene Wissen ist nichts wert, wenn es nicht zu konkreten Handlungsanweisungen führen kann. Bei der Vermittlung der Erkenntnisse durch Wissenschaft und Politik darf man sich nicht mehr auf die Objektivität der Zahlen zurückziehen. Wörter wie "Lockerungen","Eigenverantwortung","Risikobereitschaft" und so weiter werden in diesem Zusammenhang schnell zu Euphemismen für "Wir nehmen den Tod von Menschen in Kauf".
Es ist ein schwieriger Kompromiss: Ohne Impfung würde nur eine nicht durchführbare dauerhafte Isolierung aller Menschen die Pandemie einbremsen. Alle anderen Varianten der Lockerung führen zwangsläufig zum Tod von Menschen. Wir werden nicht umhinkönnen, diese Debatte zu führen -und zwar ehrlich. "Es sterben nur die Alten und die Vorerkrankten." Das mag sein. Aber auch das sind Menschen! Es ist leicht, in der Risikogruppe immer nur die anderen zu sehen. Aber die Risikogruppe sind wir alle. Wissenschaft muss nüchtern sein. Aber die Diskussion über die Erkenntnisse der Forschung braucht dringend mehr Empathie -und zwar von uns allen.
MEHR VON FLORIAN FREISTETTER: HTTP://SCIENCEBLOGS. DE/ASTRODICTICUM-SIMPLEX