Prüfungen in Zeiten von Corona

Die Pandemie zeigt auch die Problematik unseres Prüfungssystems auf. Lernen wir daraus?

TEXT: THERESA PRATTES
vom 21.10.2020

August 2020. Seit einiger Zeit sind Tests in aller Munde. Nicht nur wortwörtlich mit den Corona-Wattestäbchen, sondern auch im übertragenen Sinn, weil die diesjährige Matura mitten in den COVID-19-Lockdown gefallen ist. Während in den meisten Klassen die Noten des vorherigen Semesters in das Jahreszeugnis einfließen, sieht es bei Schulabgängern anders aus: Es ist die letzte Schulnote, die sie erhalten und könnte für ihre Zukunft ausschlaggebend sein. Die Abschlussnote beeinflusst, an welche weiterführende Schule sie gehen können, oder ob der potenzielle Arbeitgeber eine Bewerbung annimmt. In Deutschland entscheidet die Note auch darüber, welchen Studiengang man wählen darf. Die Relevanz der Abschlussprüfung ist also unbestreitbar. Doch wie testet man das Wissen und Können tausender Schülerinnen und Schüler, wenn man mindestens 1,5 Meter Abstand halten und Mundschutz tragen muss?

Zur Matura leere Aufgabenbögen abgegeben

Österreich hat mit dem 3x3-System (3 Prüfungen, 3 Wochen Vorbereitung, 3 Schularbeiten) und ohne mündliche Prüfungen einen Weg gefunden, mit den Herausforderungen zurechtzukommen. Im Vergleich zum Vorjahr ist das Ergebnis der Matura etwas schlechter ausgefallen, was daran liegen könnte, dass einige Schülerinnen und Schüler einen leeren Aufgabenbogen abgegeben haben. Da die Abschlussnote 2020 sich aus dem Durchschnitt der Jahres-und Maturanote zusammensetzt, konnten sie sich ausrechnen, welche Noten erreichbar waren und in welchen Fächern sie sich nicht mehr anstrengen mussten.

Drei Varianten der Matura während der Pandemie

Die österreichische Variante ist eine von drei Möglichkeiten, wie eine Prüfung in Pandemiezeiten aussehen kann: Sie wird abgeändert abgehalten. So ist es auch in der Türkei geschehen, wo die Abschlussprüfungen an zwei Tagen stattfanden (27. und 28. Juni). Im ganzen Land wurde zwischen 9 Uhr 30 und 15 Uhr ein Ausgangsverbot verhängt, das für alle außer für Prüflinge und deren Verwandte galt, damit diese sie zur Prüfung bringen und wieder abholen konnten. Für Schülerinnen und Schüler mit positivem Corona-Testergebnis gab es gesonderte Räume und Maskenpflicht.

Eine weitere Möglichkeit, mit der Situation umzugehen, besteht in der zeitlichen Verschiebung der Prüfung auf ein anderes Datum. Die West African Senior School Certificate Examination (WASSCE), das westafrikanische Äquivalent zur Matura, wurde bis auf Weiteres ausgesetzt und erst dann nachgeholt, wenn sich die Situation verbessert. Das Diploma of Secondary Education (DSE) in Hongkong wurde von März auf April verschoben.

Die dritte Möglichkeit ist, die Prüfungen ganz ausfallen zu lassen. Diese Option hat Norwegen gewählt, was aber aufgrund des dortigen Schulsystems nicht allzu sehr ins Gewicht fiel. Die Abschlussnote der Schulabgängerinnen und -abgänger wird in Norwegen nur zu zwanzig Prozent von der Endprüfung bestimmt, achtzig Prozent ergeben sich aus der Mitarbeit während des Schuljahres.

Auch Frankreich ließ die Baccalaureate examinations ausfallen und vergab stattdessen, basierend auf Mitarbeit und vorherigen Leistungen in den jeweiligen Fächern, Diplome und Kurszertifikate. Die USA haben sich ebenfalls für diese Option entschieden. Tests wie SAT und ACT wurden ausgesetzt, und nun müssen US-amerikanische Universitäten ihre Aufnahmekriterien überdenken. Viele Universitäten, darunter auch alle acht Ivy-League-Colleges wie etwa Harvard, haben sich für eine "test-optional-policy" entschieden. Das bedeutet, dass angehende Studierende ihre Noten nicht angeben müssen, aber können. Bislang hat auch eine Ivy-League-Universität, das California Institute of Technology Caltech, angegeben, für die nächsten zwei Jahre künftige Studierende gänzlich testblind auszuwählen. Dafür werden andere Faktoren wie etwa die Auswahl der Schulfächer und außerschulische Aktivitäten in sozialen und sportiven Bereichen in Betracht gezogen.

Neue Prüfungskriterien für die Zukunft

Standardisierte Tests wie der SAT bevorzugen erwiesenermaßen Schülerinnen und Schüler mit höherem sozioökonomischen Status etwa aus Akademikerfamilien, da sich ihre Eltern eine eventuelle Nachhilfe leisten können und nicht neben der Schule arbeiten müssen wie viele andere Schüler. Eine Regelung wie bei Caltech kann also eine Chance für jene bedeuten, die unter "normalen" Umständen nie an einer renommierten Universität angenommen geworden wären.

Das hat zu einer Debatte über die Sinnhaftigkeit der standardisierten Tests und Prüfungen geführt. Ist es denn überhaupt noch zeitgemäß, die Fähigkeiten einer Person aufgrund einer Leistung an einem Tag zu bewerten? Sind der psychische und der Leistungsdruck, den Noten verursachen, wirklich zielführend?

Will man sich dieser Frage nähern, muss man zuerst auf die Funktion von Prüfungen und Noten blicken. Beide sollen eine Leistungsrückmeldung sein und Ausblick auf zukünftig mögliche Leistungen bieten. Noten sollten nicht nur für die Benoteten und deren Eltern, sondern auch für den Lehrenden ein Indikator für Lehrqualität sein. Sie liefern Informationen über die Effektivität eines Lernprogramms an Administratoren und über den Stand des Bildungssystems an Menschen in der Politik.

Freilich kann ein einzelnes Instrument wie eben die Notenvergabe nicht alle Informationen erbringen. Tatsächlich ist die beste Information, die man aus einer Note herauslesen kann, die Rangliste jedes Einzelnen innerhalb einer Klasse. Außerdem ist eine Note immer nur ein Durchschnittswert: So können künftige Arbeitgeber aus einem "Befriedigend" im Fach Deutsch nicht herauslesen, ob der Bewerbende gute Reden schreiben kann oder nicht. Vielleicht kann er es, ist aber bei der Interpretation von Texten schlecht und wurde deswegen mit einer Drei benotet.

Der Begriff "Bulemie-Lernen" zeigt einen weiteren Nachteil von Noten auf: Sie spiegeln meist nur kurzfristige Lernerfolge wider. Der Begriff beschreibt jenes Phänomen, wenn Studierende eine Woche lang für eine Klausur lernen, danach aber den Großteil des Gelernten wieder vergessen.

Welche Alternativen zur Notengebung gibt es?

Trotz dieser Kritikpunkte, ganz zu schweigen von Prüfungsangst und psychischem Stress, der mit Prüfungen einhergeht, hält die Bildungspolitik immer noch an standardisierten Tests fest, was eigentlich schon lange als überholt gilt. In einer Zeit, in der alles personalisiert wird, stellt sich auch die Frage, warum nicht die Art, wie man Lernende beurteilt, individualisiert werden kann.

Die Anforderungen an Lernende und Lehrende haben sich geändert, was nicht erst beim durch die Corona-Pandemie erzwungenen digitalisierten Lernen offensichtlich wurde. Weshalb prüfen wir also noch nach alten Schemata, wenn die Welt um uns herum sich ständig ändert? Weshalb werden die Prüfungen nicht angepasst?

Schon der Ursprung des Wortes "Prüfung" aus dem lateinischen probare, was erfahren, betrachten, erwägen und beweisen bedeutet, gibt eine Vorstellung davon, wie man Prüfungen alternativ gestalten könnte. So könnte man dem Prüfling zugestehen, selbst am besten erwägen zu können, wann er bereit ist, sein Wissen und Können zu beweisen.

Statt einer schriftlichen Prüfung könnte man alternative Lösungsmöglichkeiten anbieten, die wohl dieselben Fähigkeiten voraussetzen, aber für jene, die etwa unter Prüfungsangst leiden, einfacher machbar sind: Verschiedene Lerntypen unterschiedlich fördern und fordern; Fähigkeiten einzeln und Rückmeldungen zum Beispiel in Form eines Kompetenznachweises zu bewerten, kann weitaus hilfreicher sein, da der Lernbedarf präziser aufgezeigt wird und weniger allgemein als "eine 3 in Mathe".

Solche Konzepte gibt es im Moment nur vereinzelt. Corona zeigt nun die Grenzen des Status quo auf, und zwar in der Wirtschaft, im sozialen Leben, aber auch in der Art, wie wir Leistungen beurteilen und Lebenswege beeinflussen. Hoffen wir, dass wir daraus etwas lernen.

Mehr aus diesem HEUREKA

12 Wochen FALTER um 2,17 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!