Homo adipositatis mit uns

Anthropologie und Genetik zeigen, wann eine effiziente Fettspeicherung nicht nur Nachteile hat

LUKAS SCHÖPPL
vom 04.11.2020

Graham ist eine lebensgroße Skulptur der australischen Kommission für Verkehrsunfälle (TAC) und "die einzige Person, die auf unseren Straßen überleben würde". Er hat keinen Hals, sein Kopf sitzt auf den Schultern, auch ist er durch dickere Knochen und zusätzliche Haut-und Fettschichten geschützt. Luftpölsterchen zwischen den Rippen können sich bei einem Aufprall aufblasen. Seine langen Beine haben zwei Sprunggelenke, um schnell aus Gefahrensituationen zu kommen. Graham, von einem Unfallchirurgen, einem Verkehrsanalytiker und einer Künstlerin gestaltet, zeigt, wie der Mensch aussehen würde, hätte er sich gleich schnell wie Autos entwickelt.

2008: Erstmals mehr Übergewichtige als Hungernde

Die Evolution verläuft jedoch langsamer als der technologische Fortschritt. So ist der genetische Code des modernen Menschen, Homo sapiens, seit dreihunderttausend Jahren nahezu unverändert. Um ihn herum hat sich jedoch die Umwelt rasant entwickelt. Das Zusammenleben konzentriert sich zunehmend auf Städte, der hohe Bedarf an Nahrung wird von einer großen Nahrungsmittelindustrie gedeckt. Musste der Urmensch sein Essen noch sammeln oder jagen oder später durch Ackerbau und Viehzucht erwirtschaften, kauft er heute im Supermarkt ein oder lässt sich die Mahlzeit liefern. Dies führt seit Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zu einem Phänomen, das für den Homo sapiens prägend geworden ist: Übergewicht und Fettleibigkeit.

"Im Jahr 2008 verzeichnete die WHO erstmals mehr Menschen, die an Übergewicht und Adipositas leiden als an Hunger und Unterernährung", sagt Sylvia Kirchengast. Die Anthropologin an der Universität Wien beschäftigt sich unter anderem mit den evolutionären Aspekten von Übergewicht und Adipositas. "Fett ist an sich nichts Negatives. Im Gegenteil, die Fähigkeit, Fett zu akkumulieren und zu speichern ist überlebenswichtig für den Menschen. Das galt besonders in Zeiten, da Nahrungsbeschaffung mit großer Anstrengung verbunden und im Winter noch schwieriger war."

In der Anthropologie existieren verschiedene Theorien über die evolutionären Ursachen der Adipositas. "Die "Thrifty-gene"-Hypothese von James Neel geht davon aus, dass ein sparsames, englisch "thrifty", Haushalten mit Nährstoffen einen wesentlichen Vorteil bei der Entwicklung des Menschen bedeutet hat", führt Kirchengast aus.

So mussten etwa die Ureinwohner Neuseelands und Samoas oft lange Ruderstrecken zurücklegen und mit wenig Nahrung auskommen. Hohe Energiespeicherfähigkeit war ein Selektionsvorteil. "Neuere Studien an gegenwärtigen Wildbeuterkulturen wie den !Kung in Namibia sprechen jedoch gegen ein Szenario von Hungersnöten und Mangelernährung im Paläolithikum. Diesem Umstand wird der Ansatz von John Speakman gerecht. Seiner "Drifty-gene"-Hypothese nach war die Fähigkeit, Energie lange zu speichern, kein Vorteil. Durch die kulturellen Entwicklungsprozesse war sie einfach kein Nachteil mehr."

War noch Übergewicht in Kampf-oder Fluchtsituationen eine Schwachstelle, treten solche Situationen heute kaum mehr auf. Die Folge ist eine Gendrift, also eine zufällige Veränderung. "So konnte sich laut dieser Hypothese die menschliche Prädisposition zu Adipositas ausbreiten. Wahrscheinlich ist es ein Mix aus beiden Hypothesen", erklärt Kirchengast.

Aus anthropologischer Sicht sind steigende Adipositas-Raten das Resultat der menschlichen Evolution. Es scheint jedoch weniger eine Entwicklung im Sinne der genetischen Anpassung wie beim australischen Graham zu sein, sondern vielmehr eine Art Nichtentwicklung im Verhältnis zu den veränderten, lebensweltlichen Umständen.

Was bleibt, ist die phänotypische Ausprägung: ein evolutionärer Wohlstandsbauch. "In Zeiten permanenten Überflusses wird die Fähigkeit der effizienten Energiespeicherung zum Nachteil. Vor allem bei einer mangelnden genetischen Adaptation an zucker-und fettreichen Nahrungsmitteln."

95 Prozent aller adipösen Menschen haben eine Leptinresistenz Ähnlicher

Meinung ist der Neurowissenschafter Alexander Tups, der unweit von Graham entfernt an der University of Otago in Neuseeland forscht. Im Zentrum seiner Arbeit steht das Hormon Leptin und seine Rolle bei Adipositas.

Leptin wird im Fettgewebe gebildet und ist verantwortlich für unser Sättigungsgefühl. Wie eine Benzinuhr teilt Leptin dem Gehirn mit, wie viele Reserven der Körper "im Tank" hat und reguliert dementsprechend die Nahrungsaufnahme. Könnte die künstliche Verabreichung von Leptin unser Sättigungsgefühl provozieren und uns demnach bei der Gewichtsreduktion helfen?

"Versuche in diese Richtung gab es immer wieder", meint Tups. "Ist der Leptinspiegel aber dauerhaft erhöht, kann das Hirn das Signal irgendwann nicht mehr lesen." Die Folge davon ist eine Leptin-Resistenz. Eine solche Resistenz weisen 95 Prozent aller adipösen Menschen auf. Wann diese auftritt, ist individuell unterschiedlich.

"Es gibt einen persönlichen Schwellenwert, ab dem das Gehirn leptinresistent wird", so Tups' Hypothese. "Ausschlaggebend ist der Körperfettgehalt, der durch genetische Vorbedingungen bestimmt sein kann. Übersteigt er einen kritischen Wert, entsteht eine Leptinresistenz. Manche Menschen bilden zu viel Leptin proportional zum Körpergewicht."

Dabei betont Tups, dass fett nicht gleich dick bedeutet: "Menschen des sogenannten "Toffee-phenotypes" erscheinen außen schlank, haben innen allerdings viel viszerales Fett."

Der "Toffee-Phänotyp" ist vor allem im asiatischen Raum verbreitet. Der Body-Mass-Index ist als Verhältnismaß nur bedingt aussagekräftig. Menschen, die intensiv Kraftsport betreiben, haben auch eine höhere Muskelmasse. Auch der Fettanteil ist individuell und je nach Bevölkerungsgruppe unterschiedlich. In Neuseeland, wo Tups lebt und forscht, sind Pacific Nations wie Maōri und andere polynesische Pasifika People besonders von Adipositas betroffen. Die Fettleibigkeitsrate beträgt hier bis zu siebzig Prozent, höher als in Nordund Südamerika.

Bei einer globalen Nahrungsknappheit wäre Adipositas ein Vorteil

So interessant Tups die These findet, eine neue Spezies, die den Homo sapiens sukzessive ablöst, der Homo adipositatis, ist für ihn nicht haltbar. "Wenn man den ausrufen wollte, müsste Adipositas einen genetischen Vorteil haben", erklärt Tups. "Schwer adipöse Menschen sind häufig unfruchtbar. Auch das Risiko einer Diabeteserkrankung ist drastisch erhöht. Diabetes wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit, an Alzheimer zu erkranken." Alles keine Selektionsvorteile.

"Allerdings besteht aber auch kein evolutionärer Nachteil, wenn die Mortalität erst nach der reproduktiven Phase erhöht ist." Fettleibige Menschen sterben selten, bevor sie sich fortgepflanzt haben. "Im hypothetischen Szenario einer globalen Nahrungsknappheit würden die Dinge anders aussehen. Hier wäre Adipositas ein Vorteil, schlanke Menschen würden womöglich sogar aussterben."

Auch wenn er nichts vom Homo adipositatis hält, die pauschale Verunglimpfung von Adipösen als kranke Menschen findet Tups bedenklich. "Im englischen Sprachraum spricht man bei Adipositas eher von einem Zustand (condition) als von einer Krankheit", so Tups. Seine Forschung berücksichtigt die individuelle Disposition der Menschen. "Das ist besonders in multikulturellen Nationen wie Neuseeland wichtig, wo Adipositas auch ein politischer Faktor ist. Wenn eine Bevölkerungsgruppe zu Fettleibigkeit neigt, ist es unerlässlich, dass die Forschung maßgeschneidert ist. So wird Prävention möglich, die Behandlung verbessert, und das Gesundheitssystem nicht überlastet."

Eine Erkenntnis, die auch angesichts des schwereren Krankheitsverlaufs von CO-VID-19 bei übergewichtigen Menschen evident ist. Durch die individuelle Berücksichtigung konnte eine Forschergruppe um Tups neue Entdeckungen machen: So sind manche Maōri und Pasifika People zwar adipös, durch die Genmutation CREBRF paradoxerweise aber vor Diabetes geschützt.

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