Mutige Verzweiflung: Selbstmord in Film und Serie
Anders als üblicherweise angenommen, wählen die meisten Protagonisten in Filmen nicht aus einer psychischen Störung heraus den Freitod
vom 04.11.2020
Das Thema Suizid wird nicht nur im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie abgehandelt, sondern ebenso in der Weltliteratur, man denke an Shakespeare, in dessen Gesamtwerk dreizehn Freitode vorkommen, oder an die Bibel, in der elf Selbsttötungen zu finden sind, und vor allem an den Spielfilm, der sich von jeher für den Topos der Lebensmüdigkeit und Todessehnsucht interessiert.
So zählt zum Beispiel das American Film Institute an die 1.600 Spielfilme, in denen Suizidhandlungen vorkommen bzw. eine Rolle spielen.
Was die wichtigsten Suizidmotive im Spielfilm anbelangt, zeigt das eben erschienene Buch Lebensmüde, todestrunken -Suizid, Freitod und Selbstmord in Film und Serie, dass es in Filmen und Serien weniger psychiatrische Erkrankungen sind, die zu einem Selbstmord motivieren, sondern soziale Schwierigkeiten und Konflikte wie zum Beispiel Beziehungsabbrüche, Trennungen, Eltern-Kind-Konflikte, Partnerschaftsprobleme, Geldnöte, Einsamkeit, Mobbing und zwischenmenschliche Schikanen, gesellschaftliche Vorurteile gegenüber Ethnien und sexueller Orientierung, Schuld und Scham, die Filmprotagonisten dazu bringen, sich das Leben zu nehmen. Damit fordert der Film die gängige psychiatrische Lehrmeinung heraus, dass neunzig Prozent aller Suizidhandlungen aus einer psychischen Störung passieren. Zumindest was die Filmfiguren anbelangt, stimmt diese ungeprüfte und empirisch ja nicht zu belegende Behauptung keinesfalls, da nur rund zwanzig Prozent aller Filmprotagonisten sich aufgrund einer psychiatrischen Problematik das Leben nehmen.
Die vorliegende Publikation ergänzt und vervollständigt bereits bestehende ältere Arbeiten zum Thema "Suizid und Film" durch 35 tiefenhermeneutische Analysen ausgewählter Filme und Serien und einer Überblicksarbeit zum Thema "Selbstmord und Freitod im Stummfilm", die 78 Streifen aus der frühen Kinogeschichte erwähnt.
Wenn da und dort ein Autor der Versuchung unterlag, eine Filmfigur durch eine psychiatrische Diagnose zu fassen, dann geschah das stets im Wissen um die Limitation solcher Bemühungen, denn die Minimalforderung an eine psychologisch-psychotherapeutische Diagnostik ist die, dass man mit der zu beurteilenden Person in Interaktion treten kann - was bei Filmfiguren jedoch schwerlich möglich ist.
Dennoch sind manche Auffälligkeiten von Filmcharakteren so evident, dass man mit dem Wissen um diese Grenze -zum besseren Verständnis einer Figur und nicht zuletzt auch aus psychotherapiedidaktischen Gründen -auf diagnostische Etikettierungen zurückgreifen kann.