FREIBRIEF

Wissen, aber ...

FLORIAN FREISTETTER
vom 04.11.2020

Das Wissen über das notwendige Handeln und die notwendige Handlung selbst sind zwei völlig verschiedene Dinge. Zum Beispiel:

Ich weiß eigentlich schon, dass es besser für mich wäre, auf die zweite Portion Nachtisch zu verzichten, tue es aber trotzdem nicht, weil es so gut schmeckt. Diese kognitive Dissonanz ist harmlos, wenn es wirklich nur um die einmalige Frage nach der Nachspeise geht. Sie gewinnt in anderen Bereichen aber große gesellschaftliche Relevanz.

Wir wissen etwa alle, dass es schlecht für das Klima ist, wenn wir mit dem Flugzeug fliegen oder zu oft mit dem Auto durch die Gegend fahren. Trotzdem tun wir es. Wir wissen, dass wir während einer Pandemie keine großen Partys feiern und uns isolieren sollten. Trotzdem tun das viele nicht. Die objektiven Erkenntnisse der Naturwissenschaft, im ersten Fall der Klimaforschung, im zweiten Fall der Virologie, stehen im Widerspruch zu den individuellen Wünschen vieler Menschen.

Das stellt ein Problem für die Wissenschaftskommunikation wie für die Politik dar. Selbstverständlich ist es wichtig, dass Klimaforscher und Virologen auf den Ernst der Lage hinweisen, die wissenschaftlichen Grundlagen von Klimakrise und Pandemie erklären und der Öffentlichkeit erläutern, zu welchen Konsequenzen bestimmte Handlungen in der Zukunft führen werden.

Kritisch wird es dann, wenn die Wissenschaft zu konkreten Aktionen aufruft beziehungsweise davor warnt, bestimmte Dinge zu tun.

Das ist zwar in vielen Fällen notwendig, kann aber zu Problemen führen, wenn diese Handlungsanweisungen uns unangenehm sind. Statt sich mit dem inneren Schweinehund zu beschäftigen, entwickelt man lieber eine Abneigung gegenüber der Wissenschaft, die einem die "schlechte Nachricht" überbracht hat.

Für solche Fälle muss sich die Wissenschaftskommunikation vernünftige Strategien überlegen, damit die Bedeutung der Botschaft nicht in reiner Opposition untergeht.

Und auch die Politik darf nicht der Versuchung des scheinbar einfachen Weges erliegen. Die Realität verschwindet leider nicht, auch wenn wir sie noch so hartnäckig ignorieren möchten.

MEHR VON FLORIAN FREISTETTER: HTTP://SCIENCEBLOGS. DE/ASTRODICTICUM-SIMPLEX

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