WAS AM ENDE BLEIBT

101 Jahre alt

ERICH KLEIN
vom 18.11.2020

In die südfranzösische Abtei Conques kamen zuerst Pilger, dann Romantiker und zuletzt die Touristen. Erstere auf der beschwerlichen Suche nach Gott, zweitere kunstbegeistert dem Unendlichen nachspazierend, Touristen wissen nie genau, was sie suchen. Eine Kirche aus dem elften Jahrhundert vielleicht, zu Ehren der Heiligen Fides errichtet, einer christlichen Märtyrerin aus dem vierten Jahrhundert? Einziger moderner Anziehungspunkt in der von Landflucht gekennzeichneten Gegend sind die in den 1990er Jahren gestalteten Glasfenster des französischen Malers Pierre Soulages. Die 184 weißen und opaken Gläser sind mit ihrer unterbrochenen Bildfläche von über 400 Quadratmetern eines der größten zeitgenössischen Kunstwerke.

Für den im nahen Rodez 1919 geborenen Soulages war die Arbeit an seinem chef d`oeuvre nicht nur eine Rückkehr zu den Anfängen europäischer Kunst, es handelte sich auch um eine zum eigenen Ursprung. Beim Anblick der Architektur von Conques entschied sich der Junge während eines Schulausflugs, Maler zu werden. Die profane Erleuchtung ließe den in barbarischen Zeiten aufwachsenden Soulages ein Leben lang an einem Credo festhalten: "Der einzige Sinn meiner Malerei besteht darin, Licht zu malen!" Bei der Eröffnung seiner Glasfenster in Conques witzelte der Künstler über sein Markenzeichen, die schwarze Farbe: "Die Leute sagten, jetzt macht er sicher schwarze Glasfenster, mich aber hat weiß interessiert, das Licht im Zusammenspiel mit dem Stein, ocker, rosa, blau. Nicht mehr."

Was sich dem Betrachter hinter der Weltgerichtsszene im Portal von Conques öffnet? Die von schwarzen Metallstegen unterbrochenen und von schraffurartigen Bleibändern durchzogenen Gläser versetzen den Raum in einen Taumel der Ruhe. Die Welt an ihrem Anfang und Ende? Von Soulages erfährt man keine Aussagen, er hält sich allein an das Sichtbare. Was man sieht, das sieht man. Die Empathie des Künstlers gilt den Glasschleifern und Chemikern, denen es gelang, zentimeterdickes Glas herzustellen, das den Eindruck der Selbstemanation erzeugt: "Das Licht musste aus dem Inneren des Glases kommen, dafür sind ganz bestimmte Granulate in ganz bestimmter Größe notwendig." Alchemie der Kunst? Lumière heißt Licht und Aufklärung. Pierre Soulages wird im Dezember 101 Jahre alt.

Mehr aus diesem HEUREKA

12 Wochen FALTER um 2,17 € pro Ausgabe
Kritischer und unabhängiger Journalismus kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit einem Abonnement!