Gleichungen für Mikrostrukturen
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Manchmal sind die unausgesprochenen Sätze auch die aussagekräftigsten. So etwa in der Begleitausstellung von Maleme, einem Soldatenfriedhof an der Nordwestküste Kretas. Knapp 4.500 deutsche Soldaten liegen hier begraben, sie alle starben im Zweiten Weltkrieg. Unter den Toten ist auch General Bruno Bräuer, der von 1942 bis 1944 Oberkommandant der deutschen Streitkräfte auf Kreta war. Auf einer Infotafel steht knapp: "Er wurde nach Kriegsende von den Briten ausgeliefert und am 20. Mai 1947 nach einem Prozess in Griechenland hingerichtet." Was unausgesprochen bleibt: Bräuer wurde wegen mehrerer Kriegsverbrechen exekutiert, für die er in seiner Funktion verantwortlich war.
Zuständig für den Soldatenfriedhof von Maleme ist der "Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge", ein gemeinnütziger Verein aus Deutschland. Der Friedhof ist ein Tourismusmagnet: mehr als 50.000 Menschen besuchen die Kriegsgräberstätte pro Jahr. Auch deshalb ist Daniela Schily, seit fünf Jahren Generalsekretärin des Volksbundes, mit der Ausstellung unglücklich: "In Maleme wird informiert, aber nicht kontextualisiert", sagt sie.
Das ist insofern ein Problem, da die Deutschen während der Besatzung Kretas von 1941 bis 1945 ein sehr brutales Regiment führten. Berüchtigt ist etwa der "Sühnebefehl", den der General Kurt Student im Mai 1941 erließ. Damals wurde Kreta im Zuge der Luftlandeoperation "Merkur" besetzt. Da sich Teile der kretischen Bevölkerung hartnäckig gegen die Invasion gewehrt hatten, ordnete Student "Vergeltungsmaßnahmen" an. Laut Befehl "in Frage" kamen "Erschiessungen","Kontributionen", das "Niederbrennen von Ortschaften" und die "Ausrottung der männlichen Bevölkerung ganzer Gebiete". Ähnliche Maßnahmen zogen sich bis 1945 durch die gesamte Besatzungszeit, mindestens 3.474 Kreter wurden von deutschen Wehrmachtsoldaten getötet.
In der aktuellen Ausstellung von Maleme muss man solche Informationen mit der Lupe suchen. "Das liegt auch an der Geschichte des Volksbundes", sagt Schily: "Wir sahen uns als zivile Organisation und wollten uns nicht politisch einmischen." Doch nun findet im Volksbund ein Generationenwechsel statt, und im Jahr 2016 gab er sich ein neues Leitbild. Darin wird festgehalten, dass der Zweite Weltkrieg ein "Angriffskrieg des nationalsozialistischen Deutschlands" war und Millionen Opfer forderte.
Auch deshalb arbeitet der Volksbund nun daran, die Begleitausstellungen in neunzehn seiner Kriegsgräberstätten neu zu gestalten. Der Soldatenfriedhof in Maleme ist eine davon. "Wir können die Deportation der jüdischen Bevölkerung oder die niedergebrannten Dörfer nicht länger ignorieren. Das alles gehört zusammen", sagt Schily.
Deshalb sollen diese Themen künftig thematisiert werden. Das soll etwa durch die Beschreibung unterschiedlicher Biografien gelingen. Neben kurzen Porträts deutscher oder britischer Soldaten könnte etwa die Geschichte zweier jüdischer Frauen dargestellt werden, die 1944 aus Kreta deportiert wurden. Eine besondere Rolle kommt auch einer Bronzetafel zu, die im Eingangsbereich der Ausstellung angebracht ist. Sie informiert, dass der Großteil der in Maleme begrabenen Deutschen, exakt 3.352 Männer, während der Schlacht um Kreta starb. "Sie gaben ihr Leben für ihr Vaterland", steht auf der Tafel. Den Pathos lehnt Schily ab: "Ein Soldat kann nicht 'für das Vaterland fallen', wenn er mit einem Fallschirm auf Kreta landet."
Deshalb soll die "Vaterlandstafel" künftig zu einem Ausstellungsstück werden, das den Wandel des Volksbundes zeigt. Sie wird "inhaltlich und gestalterisch kontextualisiert, dadurch historisiert und in das erste Exponat der Ausstellung transformiert", heißt es im Grobkonzept der neuen Ausstellung, das von der Dresdner Ausstellungsagentur "kursiv" und der Historikerin Corinna Kuhr-Korolev erstellt wurde. Ihnen erteilte der Volksbund den Auftrag, die Ausstellung bis nächstes Frühjahr neu zu konzipieren. Das Ziel soll sein, dass schwierige Themen nicht mehr unausgesprochen bleiben.
Der Autor Tobias Schmitzberger ist Gedenkdiener in der Etz Hayyim Synagogue in Chania. Etz Hayyim wirkt bei der Neukonzeption der Ausstellung in Maleme beratend mit.