Kontamination auf Distanz
vom 18.11.2020
Was unterscheidet die mediale Revolution der Gegenwart von Buchdruck, Presse, Rundfunk, Fernsehen und Telefonie? Was an der digitalen Verlinkung der Gesellschaft rechtfertigt ihre Sonderstellung in der Mediengeschichte? Die Antwort ausschließlich in ihren negativen Konsequenzen zu suchen wäre zum Scheitern verurteilt. Denn noch jede Verstärkung der medialen Erreichbarkeit wirkte mobilisierend und als Beschleuniger fataler Konflikte.
Hätte man nur das im Blick, wäre der mediale Informationsaustausch von heute nur eine Fortschreibung der technologischen Entwicklung ohne Anspruch auf Beispiellosigkeit.
In der Kulturgeschichte sind wir bei den Kommunikationsformen mit Paradigmenwechseln konfrontiert. Doch die gegenwärtige Mediensituation zeigt wesentliche Unterschiede, da prothetische und prophylaktische Funktionen einbezogen werden. Dank ihnen genießt die digitale Kommunikation eine globale und fast ausnahmslose Akzeptanz. Smartwatches, Handys, Tablets, Laptops, Computer und VR-Brillen sind zu Erweiterungen, zu unseren Prothesen geworden. Die Corona-Krise macht sichtbar, welche Kompetenz wir diesen Geräten zugestehen. Sie ersetzen gemeinsame Treffen und erhalten trotz der Isolation der einzelnen Menschen die Dynamik unseres Gruppenorganismus. Jedem einzelnen vermitteln sie auf Knopfdruck sinnliche Erfahrungen und transportieren ihn in beliebige Situationen, ohne seinen Körper zu bewegen. Die Berührung der multimedialen Schnittstelle wird zur Gewohnheit, auch weil sie für die Kommunikation mit der Außenwelt alternativlos ist. Das Handy wegzulegen ähnelt dem Handikap, bei Sehstörungen ohne Brille herumzulaufen. Nie in der Mediengeschichte war die Trennung vom Medium der Amputation eines lebenswichtigen Körpergliedes so ähnlich. Der Technologie ist es gelungen, in unsere Intimsphäre einzudringen.
Die prophylaktische, also vorbeugende Funktion folgt der prothetischen. Sie hält in der Krisenzeit die Wirtschaft und andere soziokulturelle Bereiche am Laufen. In der Kulturgeschichte stoßen wir zwar immer wieder auf wundersame Schutzobjekte, die Heil versprechen, das Internet hat aber diesen Kult vergegenwärtigt. Viele glauben an die Profite einer Ferngesellschaft, doch die Tatsache, dass ich mich allein vor dem Computer nicht mit Corona anstecken kann, bringt auch keine Lösung unserer zivilisatorischen Probleme. Im Gegenteil, durch Datenüberproduktion und -manipulation entstehen neue.
Auf diese Gefahren reagieren Forschungsplattformen mit Revisionen der Datenverwaltung und der Informationsströme aus unübersichtlichen Datensilos. Doch es verlangt Ausdauer, um die Gewinner der medialen Revolution zu einer neuen Ethik des Datengebrauchs zu bewegen. Noch ist unsere Gesellschaft von einer nachhaltigen und tatsächlich prophylaktischen Nutzung des Internets weit entfernt, was die Komplikationen bei der Verifizierung von Informationen, auch der lebenswichtigen wie über die Pandemie, auf der globalen Ebene belegen.