HORT DER WISSENSCHAFT

Verschollen im Depot

MARTIN HAIDINGER
vom 18.11.2020

"Nachts im Museum" ist ein dreiteiliger Blockbuster, der jede Menge Geld gemacht hat. Die Idee mit der nächtlichen Aktivität diverser Exponate und Präparate ist, wie der Wiener sagt, leiwand, aber in den kitschigen Filmen nur mäßig originell umgesetzt worden. Abgesehen davon, dass ich mir so etwas in Wiener Museen gar nicht wünschen will (man denke nur an das grausliche Holzpferd von Bildhauer H. im "Haus der Geschichte Österreich" in der überfüllten Hofburg), reizt mich ein anderer Gedanke viel mehr:

Was, wenn nicht die Museen, sondern unsere Bibliotheken und Archive nachtaktiv würden? Vor Monaten fragte ich den neuen Chef des Staatsarchivs, Helmut Wohnout, ob er sich schon über Nacht in den Hallen seines Hauses hätte einschließen lassen. Der Historiker verneinte, doch blitzten seine Äuglein schalkhaft, und ich werde den Verdacht nicht los, dass er doch einmal zur Mitternacht über dem berühmten "Kaffeeakt" Maria Theresias gebrütet und den Geist der längst verwichenen Herrscherin beschworen haben mag.

Den Kunsthistoriker Rainer Valenta wiederum getraute ich mich nicht zu fragen, ob die von ihm im Rahmen eines FWF-Projekts betreute Privatbibliothek des Kaisers Franz zur Geisterstunde womöglich vor Schemen wimmelt. Nicht auszudenken, wenn neben dem Demokratenschreck Franz II./I. auch dessen Schwiegersohn Napoleon Bonaparte und der alte Metternich auskämen! Dann liefen in Wien gleich drei politische Geister herum, die alle in Wien vorhandenen Talente übertrumpfen sowie die aktuellen Potentaten aushebeln und womöglich stürzen könnten - ganz ohne Wahlmanipulationen.

Von digitalen Speichern ist hier weniger zu befürchten, denn die sind ja hochgesichert, und wenn doch einmal etwas entwischt, dann bleibt es meistens leblos und flimmert unambitioniert über matte Bildschirme

Doch halt, da war ich jetzt ungerecht! Denn rufen Sie einmal www.anno.onb.ac.at auf! Das digitale Zeitungsarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek spielt alle Stückeln, und das rund um die Uhr! Von 1562 (!) bis (derzeit) 1949 werden via Zeitungen und Zeitschriften fünf Jahrhunderte lebendig. Das schönste an alten Presserzeugnissen ist, dass nicht im Nachhinein irgendein Besserwisser naseweis seinen oder ihren Senf dazugibt, und der mündige Leser jederlei Geschlechts sich selbst sein Urteil bilden kann, ganz im Sinne einer fairen, weil zeitbezogenen "Kontextualisierung". Fazit: In diesem digitalen Depot verliere ich mich gern!

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