Ein Dorf zum Vergessen
"De Hogeweyk" ist ein besonderes Dorf in den Niederlanden: Hier wohnen nur demente Menschen
vom 31.03.2021
Ein-und zweistöckige Häuschen mit Klinkerfassade reihen sich aneinander, bilden Höfe und Durchgänge. Es gibt einen Park mit einem Weiher, ein Café, ein Restaurant, einen Supermarkt, einen Friseursalon und ein Theater. Was auf den ersten Blick wie ein modernes Dorf in den Niederlanden wirkt, unterscheidet sich jedoch in einem wesentlichen Punkt: Es hat lediglich einen einzigen, zentralen Ein-und Ausgang, durch den man die abgeschlossene Anlage betreten oder verlassen kann.
Verlaufen kann sich in diesem Dorf niemand
"De Hogeweyk" im niederländischen Weesp, etwa zwanzig Kilometer von Amsterdam entfernt, ist ein sogenanntes "Demenzdorf". Ganz bewusst wurde die 2008 eröffnete Anlage als Wohnviertel entworfen, in dem sich die Bewohner frei bewegen können. Verirren kann man sich nicht: Alle Wege führen früher oder später zum Ausgangspunkt zurück.
In den verklinkerten Reihenhäusern leben in 23 Wohneinheiten jeweils sechs bis acht Menschen zusammen, pro Gruppe helfen ein bis zwei fixe Bezugspersonen bei der Bewältigung des Alltags. Jede und jeder lebt in einem eigenen Zimmer, die Küche und das offene Wohnzimmer sind Gemeinschaftsbereiche. Die einzelnen Wohneinheiten sind zu Themenbereichen eingerichtet, die unterschiedlichen Lebensstilen entsprechen. Ob "städtisch","häuslich","handwerklich","gehoben","kulturell","christlich" oder "indisch", die Ausrichtung nach den sieben Lebensstilen soll dazu beitragen, sich heimisch zu fühlen.
Teresa Millner-Kurzbauer, die bei der Volkshilfe Österreich das Projekt "Demenzhilfe Österreich" und den Fachbereich Pflege und Betreuung leitet, hat die Anlage besichtigt: "Das Areal ist hell und offen und wirkt sehr groß, die Atmosphäre war angenehm", erzählt sie. "Ich hatte den Eindruck, dass sich die Menschen dort wohlfühlen, sie sind unterwegs, treffen einander, gehen einkaufen." Der Dorf-Supermarkt ist auf seine Kundschaft eingestellt: Wer nicht bezahlen kann, wird trotzdem bedient, denn abgerechnet wird intern.
Sind Pflegeeinrichtungen wie "De Hogeweyk" ein gutes Konzept?
Die Bewohnerschaft von "De Hogeweyk" befindet sich generell in einem fortgeschrittenen Stadium der Krankheit. So kann es bei jedem von ihnen jederzeit zu Ausfällen kommen und zum Beispiel plötzlich nicht mehr wissen, wo sie sich befinden. "Da war es einfach großartig zu sehen, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner frei bewegen können", sagt Millner-Kurzbauer. Nur etwa die Hälfte der 15.000 Quadratmeter umfassenden Anlage ist bebaut, der Rest besteht aus Freiflächen. "Einzig der zentrale Zugang zum Areal ist versperrt. Das fällt aber eigentlich überhaupt nicht auf."
In "De Hogeweyk" kümmern sich rund 240 Angestellte und mehr als 180 Ehrenamtliche um das Wohl der Bewohner. Außerdem finden im Dorf immer wieder Veranstaltungen wie etwa Theateraufführungen statt, die auch von auswärtigen Personen besucht werden. "Als wir vor Ort waren, hat am Abend eine Band gespielt und die Menschen kamen zusammen", so Millner-Kurzbauer. "Ich halte Pflegeeinrichtungen wie 'De Hogeweyk' für ein gutes Konzept."
Ein Konzept, das inzwischen auch außerhalb der Niederlande Nachahmer gefunden hat. In Deutschland, Dänemark, Frankreich und Italien sind Einrichtungen mit eigens geschaffenen Lebensräumen für Menschen mit Demenz entstanden. Ein Konzept, das für Österreich undenkbar sei, wie Raphael Schönborn, Geschäftsführer des Vereins PROMENZ, betont: "Die Österreichische Demenzstrategie, die 2015 entwickelt wurde, hat sich unter anderem zum Ziel gesetzt, Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe der Betroffenen zu gewährleisten. Ganz im Gegensatz zum Konzept der Demenzdörfer, das die Menschen von der Gesellschaft absondert."
PROMENZ ist eine Selbsthilfeorganisation für Menschen mit Vergesslichkeit - der Begriff "Demenz", der wörtlich übersetzt "ohne Geist" bedeutet, wird bewusst nicht verwendet. "Betroffene definieren sich eher und besser über den Ausdruck 'Vergesslichkeit', die Bezeichnung 'Demenz' wird stigmatisierend erlebt", sagt Schönborn, der sich intensiv mit der Krankheit aus der Innenperspektive auseinandergesetzt hat. So hat er etwa im Rahmen einer Studie zahlreiche Interviews mit Betroffenen zur subjektiven Demenzwahrnehmung und -bewältigung geführt.
"Die Menschen sind sich ihrer Orientierungsprobleme, ihrer Vergesslichkeit oder ihrer langsameren Deutungsfähigkeit natürlich bewusst. Sie wollen aber nicht darauf reduziert werden, sondern weiter teilhaben und ernst genommen werden. Gegen ihre Defizite können sie nichts tun, daher wünschen sie sich eine Konzentration auf das, was möglich ist." Obwohl Aktionen und Entscheidungen von Demenzbetroffenen manchmal nicht rational zu sein scheinen, macht eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Person diese oft verständlich, meint Schönborn: "Dann versteht man auch das Bedürfnis, dem die Handlung gefolgt ist."
Betroffene seien zur Selbsthilfe fähig, sagt Raphael Schönborn, brauchen dabei aber Hilfe und Unterstützung. "Es ist unsere Aufgabe als Gesellschaft, dass diese Personen nicht verlorengehen, sondern inkludiert leben und teilhaben können." Orte wie "De Hogeweyk" stehen für ihn im Widerspruch zu diesem Inklusionsgedanken: "Die Menschen werden getäuscht. Hier wird eine Scheinwelt geschaffen, auf die sich das ganze Dasein reduziert."
Achtzig Prozent bleiben in Österreich in ihrer gewohnten Umgebung
Ein Großteil der Betroffenen möchte selbstbestimmt zu Hause leben, bestätigt auch Teresa Millner-Kurzbauer. Tatsächlich werden achtzig Prozent der Pflegebedürftigen in Österreich in ihrer gewohnten Umgebung betreut: "Die erste Person, die dabei die Pflege übernimmt, bleibt normalerweise bis zum Schluss." Meistens ist das die Frau oder der Partner des Menschen mit Demenz. "Was hier geleistet wird, kann man gar nicht genug wertschätzen", betont Millner-Kurzbauer.
"Zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden von Frauen betreut, ein Drittel von Männern", konkretisiert der Neurologe und Psychiater Peter Dal-Bianco, Präsident der Österreichischen Alzheimer Gesellschaft. Häufig sei es die Partnerin, die Tochter oder die Enkelin, die pflegt: "Die Begriffe 'Menschlichkeit' und 'Betreuung' werden in unserer Kultur immer noch mit Frauen verknüpft, von der Kinder-bis zur Altenbetreuung."
Besonders fordernd wird die Pflege dann, wenn zum kognitiven Verfall Verhaltensveränderungen hinzukommen. Unvorhersehbares oder gar aggressives Verhalten und das Gefühl, eine "fremde Person" im Haus zu haben, kosten Kraft und ziehen oftmals Überforderung nach sich. "Der Weg ins Heim führt in den meisten Fällen über Verhaltensstörungen", konstatiert Dal-Bianco. Dort übernehmen Ärzte und Pflegekräfte die Betreuung, die an den jeweiligen Zustand der Patientin oder des Patienten angepasst ist.
"Ein Pflegeheim ist das letzte Angebot, das es gibt", so Millner-Kurzbauer, "obwohl das österreichische auf diesem Gebiet durchaus gut ist". Oft gebe es in den Einrichtungen aber nur eingeschränkte Bewegungsmöglichkeiten - nicht vergleichbar mit dem Raum, den "De Hogeweyk" bieten kann: "Trotz aller ethischen Bedenken zeigt das Konzept in meinen Augen eine gute Alternative."
Aus Sicht von Raphael Schönborn gibt es keine Argumente, die für Pflegeeinrichtungen nach dem niederländischen Vorbild sprechen: "Es besteht die Gefahr, dass hier Strukturen geschaffen werden, die durch Absonderung Menschen stigmatisieren und diskriminieren." Er wünscht sich hingegen eine Stärkung der Position von unterstützenden und begleitenden Selbsthilfeorganisationen.
Auch Peter Dal-Bianco hält prinzipiell die Trennung der Demenzbetroffenen von der Gesellschaft für bedenklich: "Dadurch fallen viele Aspekte des Lebens einfach weg." Allerdings müsse eine Wohnform nicht notwendigerweise zum gesellschaftlichen Ausschluss führen: "Die nötige Grundhaltung ist entscheidend. Demenzbetroffene brauchen Wertschätzung, wir sollten nicht über sie sprechen, sondern mit ihnen."